Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
Plätzchen. Es waren die berühmten Marzipanplätzchen von Marianne Gebauer, selbstgebacken, natürlich.
»August, ich möchte zunächst etwas sagen.« Man merkte, dass Bendlin die nächsten Sätze eingeübt hatte, man merkte es immer, wenn Leute auswendig gelernte Sätze aufsagten, Maler kannte das aus Hunderten von Verhören. »Ich habe nicht vergessen, dass dies dein Büro ist, August. Ich möchte, dass du das weißt. Ich sitze hier nur vorübergehend. Wenn du wieder zurückkommst, dann ist das wieder dein Büro. Selbstverständlich.«
»Danke«, sagte Maler. Nichts weiter.
»Wie geht es dir?«, fragte Bendlin.
»Es geht«, sagte Maler. Für einen Moment glitt sein Blick durch den Raum. Mein Büro? Alles hier war ihm fremd, vollkommen fremd. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er hier jahrelang gesessen hatte. Wie viele Tassen Kaffee hatten Rainer und er hier wohl getrunken? Die Erinnerungen blieben alle wie hinter einer Nebelwand. Er blickte auf seine Hände. Auch sie waren ihm fremd, als würden sie nicht zu ihm gehören. Jetzt musste er aufpassen. Er kannte diese Gefühlsspirale: Das Fremdheitsgefühl rückte von außen nach innen und mündete im Gefühl, von allem abgekoppelt zu sein, vor allem von sich selbst. Ein Therapeut hatte ihm geraten, in solchen Momenten irgendetwas ganz Plumpes zu tun, um die Spirale im Kopf zu durchbrechen, zum Beispiel ein volles Glas an die Wand zu werfen oder wenigstens umzuschütten. Das würde manchmal schon reichen.
Maler blickte die Kaffeekanne an. Dachte an den Therapeuten und ließ es dann doch sein.
»Ich meine, wie geht es dir gesundheitlich?«, fragte Bendlin.
Maler ließ die Frage unbeantwortet. Er wollte so schnell wie möglich diesen Raum, dieses Stockwerk, dieses Gebäude wieder verlassen. Er war hier, um seinen Kollegen von der Mordkommission zu erzählen, was er wusste. Dieser Fall hatte so gewaltige Ausmaße angenommen, das war nur zu schaffen mit den Kollegen, mit dem Polizeiapparat. Maler war klar: Er brauchte Hilfe.
Er berichtete, er habe nach der Ermordung von Rainer Gritz einen Anruf von Gabriel Tretjak bekommen, dem echten Gabriel Tretjak. Der habe ihn über die vier Männer informiert, die vier von Kattenbergs. Dass sie alle vier vor neun Jahren aus ihrem alten, belasteten Leben hatten verschwinden wollen und dass er, Tretjak, ihnen das neue Leben organisiert hatte. Maler erzählte, wie ihn Tretjak auf die Spur der beiden alten Nazi-Kinder im »Käfer« gesetzt hatte. Und auf den wütenden Christian Senne, der vor wenigen Wochen gestorben war. Er berichtete Bendlin auch von seinem traurigen Besuch bei der Witwe Senne und von seiner Begegnung mit dem Arzt im Krankenhaus, der sich die Hälfte des Jahres in Afrika engagierte. Maler erzählte vom Giftmord an dem dritten Kattenberg in Buenos Aires. Und Maler fasste zusammen: Drei der vier Kattenbergs waren tot. Einer, ein Bankier in New York, lebte. Noch. Man musste davon ausgehen, dass die Ermordung von Rainer Gritz im Zusammenhang mit diesen Taten stand.
Für ein paar Augenblicke war es still in dem kleinen Büro des Mordkommissariats. Kaffee und Plätzchen standen unberührt auf dem Tischchen. Maler hatte im Grunde offenbart, dass er tagelang auf eigene Faust, ohne Auftrag, ohne Genehmigung, ermittelt hatte. Gritz hatte ihm zwar gesagt, dass er beim Polizeipräsidenten eine Sondergenehmigung für ihn besorgt habe, doch Maler hatte sich darum überhaupt nicht mehr gekümmert. Nein, Maler war in eigener Sache unterwegs. Im Alleingang. Es wäre ein Leichtes gewesen für Bendlin, die alten Rechnungen mit einer wütenden Szene aufzuarbeiten: Was bildest du dir eigentlich ein? Wer glaubst du, wer du bist?
Doch nichts davon geschah. Bendlin stand auf, ging zu seinem Schreibtisch, holte ein paar Akten und setzte sich wieder. »Hier ist das Ergebnis der Obduktion der beiden Leichen aus der Maschine am Münchner Flughafen. Das war nicht einfach ein Doppelmord. Das war eine unvorstellbare Folterorgie, die sich über Tage hinzog.« Er fuhr fort: »Ich spare mir jetzt den biographischen Hintergrund des Mannes, scheint ja sowieso nichts zu stimmen. Über eine frühere Identität wussten wir nichts. Alles, was du erzählt hast, höre ich zum ersten Mal.«
Gabriel Tretjak alias Wolfgang von Kattenberg. Schien ein Lebemann gewesen zu sein, hatte mit Rennpferden gehandelt, eine Art Weltreisender in Sachen Glücksspiel, Hongkong, Sotschi, Dubai. Großspuriges Auftreten, er hatte immer genug Geld, keiner wusste,
Weitere Kostenlose Bücher