Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
warum.« Die Stimme aus dem Lautsprecher sprach ohne Pause und ohne Akzente. Ein Automat, der Texte vorlas. »Aber es wäre etwas eintönig, wenn ich die Anklageschrift einfach nur verlese. Wir wollen Sie am Ende Ihres Lebens nicht langweilen, oder?«
Der Beamer hinter ihm ging an, warf ein Stakkato von Bildern an die Wand, sehr schnell hintereinander. Tretjak sah Zeitungsausschnitte über den Bombenanschlag auf den Banker vor zwanzig Jahren, der ihm und seinem Freund Lichtinger einen Koffer mit sehr viel Geld gebracht hatte, er sah Menschen, die er schon vergessen hatte, in deren Leben er eingegriffen hatte, er sah seinen Vater, seinen Bruder, er sah den Gehirnforscher Kerkhoff, ein Polizeifoto von dessen Leiche, der Fall letztes Jahr war das, er sah ein Bild der vier jungen Männer aus der Familie von Kattenberg, er sah Frau Welterlin, auch einen deutschen Innenminister, dessen Drogenentzug er so geregelt hatte, dass niemand etwas davon erfuhr … Es ging durcheinander, wild durcheinander, und dann fing es wieder von vorn an. Bei manchen Bildern war er sich nicht sicher, zu schnell waren sie wieder verschwunden. Die Stimme aus dem Lautsprecher schwieg lange. Erst als sich die Serie bestimmt schon dreimal wiederholt hatte, schaltete sie sich wieder ein.
»Die Fesseln an Ihren Händen und Füßen können Strom führen«, sagte sie. »Wenn Sie meine Fragen wahrheitsgemäß beantworten, können Sie diese Information wieder vergessen. Wenn nicht, werde ich Ihrem Gehirn mit ein paar elektrischen Impulsen helfen.«
Stille.
»Sind Sie bereit für die erste Frage?«
Gabriel Tretjak nickte stumm. Der Stromstoß war kurz und heftig. Vielleicht war das Schlimmste daran noch gar nicht die Stärke, sondern der Schreck.
»Sie haben vergessen zu antworten«, sagte die Stimme. »Sind Sie bereit?«
»Ja«, sagte Gabriel Tretjak.
4
Marzipan
Jetzt kam der zweite Termin an diesem Vormittag. Der erste vor knapp zwei Stunden war brutal gewesen, zu viel für ihn, viel zu viel. Doch auf eine merkwürdige Weise fühlte er sich fast erleichtert, nach dem Motto: Jetzt kann mich gar nichts mehr erschüttern. Wovor soll ich jetzt noch Angst haben? Er hatte in seinem Leben und besonders in den letzten Wochen eines gelernt: Angst war eine Größe, die zunächst immer weiter wuchs, aber irgendwann war sie nicht mehr steigerbar. Angst war eine Größe, die sich erschöpfen konnte.
August Maler betrat das Polizeipräsidium in der Münchner Ettstraße im Schatten der Frauenkirche. Er musste die Pförtner nicht einmal anschauen, damit sie die Sicherheitstür öffneten. Die Männer in der blauen Uniform hatten die Erscheinung des Kommissars nicht vergessen. 14 Monate war er nicht mehr hier gewesen. Früher hatte er immer die Treppe genommen, zu seinem Büro im zweiten Stock, jetzt fuhr er Aufzug. Es war niemand auf dem Gang, er brauchte niemanden zu grüßen, niemandem etwas zu antworten, niemandem etwas zu erklären. Er klopfte kurz an der Tür seines alten Büros und trat ein. Als seine alte Sekretärin Marianne Gebauer ihn sah, brach sie in Tränen aus. »August«, schluchzte sie. Sie hatte gewusst, dass er kam, und sich bestimmt vorgenommen, auf keinen Fall zu weinen. Aber natürlich war Maler klar gewesen, dass sie weinen würde. Marianne weinte immer schnell, wenn es um Persönliches ging.
»Wie geht es dir?«, wollte sie fragen, aber die Worte verschwanden in ihrem Schluchzen. Sie stand auf, und er nahm sie in den Arm, nicht lange, es war mehr die Andeutung einer Umarmung. »Du kannst reingehen«, sagte sie, »er wartet schon auf dich.«
Günther Bendlin, klein und drahtig, beflissen und eifrig, der neue kommissarische Leiter des Morddezernats. Wer hätte das gedacht. Maler konnte davon ausgehen, dass Bendlin ihn nicht mochte. Er hatte ihn all die Jahre bei jeder möglichen Beförderung übergangen. Maler und Gritz waren sich in ihrer Einschätzung einig gewesen: Bendlin war zuverlässig und sicher kein schlechter Polizist, aber ihm fehlte die Kreativität. Maler und Gritz waren sich ganz sicher: Bendlin hatte noch nie eine Idee gehabt, schon gar keine, die einen Fall gelöst hatte.
Bendlin trug einen grauen Anzug und eine rote Krawatte. Das war neu. Maler glaubte sich zu erinnern, ihn nie in etwas anderem als Jeans gesehen zu haben, aber er konnte sich täuschen. Bendlin erhob sich, als Maler eintrat. Sie nahmen an dem kleinen Besprechungstisch Platz. Zwei Tassen standen da, eine Thermoskanne mit Kaffee, eine Schale mit
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