Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
Es war keine Frage des Charakters, es lag an der Scheiß-Geschichte dieses Landes. Und dann kam dieser Brief, der genau auf diese Scheiß-Geschichte zielte und daran erinnerte, dass der Reichtum der Familie von Kattenberg nach dem Zweiten Weltkrieg einzig und allein in dieser Scheiß-Geschichte begründet lag.
Richard von Kattenberg. Der Großvater. Einer der treuesten Weggefährten von Adolf Hitler, von Anfang an. Und einer der brutalsten, einer, der gern selbst quälte. Er hatte Konzentrationslager besucht und sogenannte Modenschauen veranstalten lassen. Die jüdischen Frauen mussten vor den SS-Leuten posieren. Am Ende mussten sie sich ausziehen, die SS-Männer vergaben Punkte. Richard von Kattenberg vergab Extrapunkte für den schönsten Busen. Vierzig bis fünfzig Frauen wurden begutachtet, die drei Punktbesten wurden begnadigt, die anderen mussten sterben. Als bei den Nürnberger Prozessen von Kattenbergs Todesurteil verkündet worden war, war lauter Applaus unter den Zuschauern aufgebrandet.
Richard von Kattenberg war auch eine der gierigsten Nazi-Größen gewesen. Zuständig für die Arisierung osteuropäischer Länder, hatte er Banken und Privatvermögen liquidiert, Landgüter und Kunstsammlungen beschlagnahmen lassen – und von allem erhebliche Beträge für sich persönlich abgezweigt. Niemand hatte davon gewusst, nicht einmal Hitler. Von Kattenberg hatte ein Netz von Auslandskonten angelegt, vor allem in der Schweiz und in den USA, die Besitzverhältnisse frühzeitig verschleiert und dafür gesorgt, dass nur Anwälte seines Vertrauens Zugriff auf das Geld hatten, welches sie nach 1945 seiner Familie zukommen ließen, diskret, verstand sich. Die Journalistin hatte sich geirrt: Es ging um weit mehr Geld, als sie vermutet hatte. Der Großvater hatte aus den Gebieten, die sich das Nazireich einverleibt hatte, mehr als 500 Millionen amerikanische Dollar angesammelt.
Nach der Ankunft des Briefs der Journalistin war die Lage rasch klar gewesen: Es war völlig ausgeschlossen, dass man öffentlich erklärte, das finanzielle Fundament sowohl der Bank als auch der Familie bestehe aus dem Blutgeld des Großvaters. Das hätte jeden Ruf zerstört, Entschädigungsforderungen bedeutet und wahrscheinlich den Ruin der Bank. Es musste daher zweierlei passieren. Zunächst musste mit allen Mitteln verhindert werden, dass die Vorwürfe zu diesem Zeitpunkt bekannt wurden. Dazu kam der wesentlich weiter reichende Plan B: die Konsequenz zu ziehen aus der Familiengeschichte, mit dem Ziel, den Namen von Kattenberg von der Enkelgeneration Richard von Kattenbergs an zu löschen. Was nichts anderes hieß, als dass die Brüderpaare Patrick und Peter sowie Philipp und Wolfgang in fernen Ländern eine neue Existenz beginnen mussten, zu den allerbesten Bedingungen natürlich. Des Weiteren sollte Vorsorge getroffen werden, etwa durch hohe Zahlungen und regelmäßige Spenden an jüdische Organisationen, so dass man zu einem späteren Zeitpunkt offensiv und moralisch gestützt auf Anklagen aus der Vergangenheit reagieren konnte. Es sollte ein Drehbuch der Ehrenrettung angelegt werden bei gleichzeitigem Erhalt des größten Teils des Vermögens.
Neun Jahre. Er ging in seinem holzgetäfelten Büro ein paar Schritte auf und ab, groß genug war es ja. Alles war gutgegangen, der Plan hatte funktioniert. Er war wieder Boss einer Privatbank, diesmal hieß sie »Snyder & Curtis«, auch hier Milliardenumsätze und das Ziel, die größte Privatbank der Welt zu werden. Niemand hatte unter die Lupe genommen, wie »Haller & Koch« allmählich ab- und »Snyder & Curtis« aufgebaut worden war. Er hatte eine neue Familie, eine Frau, schön und reich, zwei wunderbare Jungs, Zwillinge, sechs Jahre alt, die das Bankhaus später mal übernehmen würden, ganz sicher. Es hatte Spaß gemacht, sich ein neues Leben auszudenken. Den Autounfall der serbischen Eltern, das Aufwachsen in einem Internat. Es hatte noch mehr Spaß gemacht, als kleiner Abteilungsleiter im Investmentbanking anzufangen. Und außer ihm hatte nur einer gewusst, dass auch dieses Drehbuch damals schon feststand: wie er innerhalb von sechs Jahren an die Spitze der Bank gelangen und dieses Büro im 22. Stock beziehen würde.
Hatte er gut gemacht, dieser Gabriel Tretjak. Der Regler. Der Typ beherrschte seinen Job, das konnte man nicht anders sagen. Er erinnerte sich noch gut, wie ihm Tretjak die zwei Seiten Papier gegeben hatte mit der Überschrift »Das Verschwinden des Patrick von
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