Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
bisschen förmlich. Sie umarmte ihn. Lange. Maler dachte: Umarmt sie jetzt den Mann oder den Patienten?
Inge war dabei gewesen, heute Morgen, bei seinem ersten Termin. Natürlich war sie dabei gewesen. Im Klinikum Großhadern, Station C, Herzchirurgie. Sie hatten zwanzig Minuten warten müssen, bevor sie hineindurften zum Professor. Er war eine Legende in München, einer der großen Herzchirurgen der Welt, die Nummer eins im Lande. Und nebenbei der Mann, der August Maler sein Herz herausgeschnitten und ein neues eingepflanzt hatte.
Das neue Herz, das sein Körper nie wirklich hatte haben wollen. Es war das Problem bei jeder Transplantation: Der Körper wehrte sich gegen das neue Organ, das war bei allen Patienten so, die körpereigenen Abwehrkräfte griffen das fremde Organ an. Es war ein Paradox: Der Körper attackierte das Organ, das ihn rettete. Die großen Fortschritte, die die Transplantationsmedizin in den letzten Jahren gemacht hatte, bestanden in der Entwicklung neuer Medikamente, die den Angriffsfuror des eigenen Körpers derart schwächten, dass das Herz weitgehend unbehelligt pumpen konnte. Viele Transplantierte konnten jahrzehntelang ein weitgehend normales Leben führen.
Bei August Maler war es von Anfang an nicht gut gelaufen. Es hatte dauernd Probleme gegeben, eine Abstoßungsreaktion folgte der anderen. Knapp zwei Jahre sah es dann so aus, als würde doch alles gut werden, als hätten sie sich doch aneinander gewöhnt, sein Körper und sein neues Herz. Doch dann war eine neue, besonders schwere Abstoßungsreaktion aufgetreten. Wochenlang Intensivstation, monatelanger Klinikaufenthalt. Der mühsame Weg zurück. August Maler zumeist auf seinem Balkon, versunken in Seelenreisen, geschüttelt von Angstzuständen.
Maler hatte dem Herzchirurgen einen Namen gegeben: Professor Entschiedenheit. Er sagte immer, wie die Lage war. Er sagte immer, was zu tun war. Und tat es dann. Zweifel hatten im Leben dieses Mannes keinen Platz, es gab kein Zögern, kein Zaudern. Es gab immer nur eine Richtung, nur einen Weg. Er duldete keinen Widerspruch. Seine mitfühlendste Frage war: »Können Sie mir folgen?« Oder: »Verstehen Sie, was ich Ihnen sage?« Und so war es auch heute Morgen gewesen.
Inge und August Maler hatten auf seiner schwarzen Besprechungscouch gesessen, ihm gegenüber. Professor Entschiedenheit sagte, wie die Lage war: »Herr Maler, wir müssen was tun. Alle Werte haben sich verschlechtert. Das Blutbild ist schlecht und wird immer schlechter. Wir vermuten, dass die nächste Abstoßungsreaktion unmittelbar bevorsteht. Kein Grund zur Sorge, wir werden das in den Griff bekommen. Aber wir müssen handeln, wir können nicht weiter zuschauen.« Professor Entschiedenheit sagte, was zu tun war: »Herr Maler, Sie brauchen ein neues Herz. Beim ersten war von Beginn an der Wurm drin, das ändern wir dieses Mal. Jetzt wird alles gut. Herr Maler, es gibt nichts mehr zu überlegen, nichts mehr zu entscheiden. Sie stehen seit heute Morgen auf der Warteliste für ein neues Herz, mit allen Kriterien der Dringlichkeit. Es wird schnell gehen, glauben Sie mir.«
»Und wenn ich nicht mitmache? Wenn ich nicht mag?«, fragte Maler, durchaus mit Angriffslust in der Stimme.
Der Professor verzog keine Miene. »Dann sterben Sie, Herr Maler. Und weil das die einzige Alternative ist, vergessen wir sie sofort wieder.«
»Das sehe ich auch so«, sagte Inge Maler.
Sie waren noch etwa dreißig Minuten zusammen sitzen geblieben. Hatten besprochen, was nun kommen würde. Am Ende hatte August Maler einige Untersuchungstermine für die nächsten Tage. Er würde auch zum Psychologen müssen, der beurteilen sollte, ob er einer Transplantation seelisch gewachsen war. Das war Vorschrift, jeder Transplantationspatient musste dorthin. Bei seiner ersten Transplantation war der Psychologe ein alter Herr gewesen. Ein weiser alter Mann. Sie hatten sich über die Dinge des Lebens unterhalten, über die Liebe, über Kinder. Sie hatten über die Fähigkeit gesprochen, das Glück zu erkennen. Und dahin hatte der Psychologe das Gespräch auch steuern wollen: das Glück zu erkennen, eine neue Chance zu bekommen, mit dem neuen Herzen. Maler hatte den Mann für in sich ruhend gehalten, für seelisch gefestigt. Einige Wochen später hatte er zufällig dessen Todesanzeige gelesen. Er hatte sich erkundigt, und es hatte sich herausgestellt, dass sich der Psychologe erschossen hatte. Depression, Einsamkeit seien die Gründe gewesen. So konnte man sich
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