Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
täuschen.
Im Café Tambosi bestellte Maler für sich und seine Frau zwei Gläser Portwein. Das erste Mal seit langer Zeit, dass er etwas Alkoholisches trank. Es war zwar erst später Vormittag, aber er hatte das Gefühl, dass es genau das Richtige war. Und er hatte recht. Der Alkohol ließ seine Hände ruhig werden, er konnte das Glas heben, einfach so. Wer die beiden beobachtet hätte, wäre wohl auf den Gedanken gekommen, ein vertrautes, glückliches Paar zu sehen. Sehr mit sich beschäftigt, wie es manche guten Paare eben so sind.
Als sie das Café verließen, gingen sie über den Hofgarten Richtung Auto. Später sollte Maler denken, dass er als Kripomann den Mann hätte bemerken müssen, der ihnen folgte. Er trug eine schwarze Lederjacke und hatte eine kleine Tüte im Arm, aus der er Körner streute, für die Tauben. Deswegen hatte er seine Handschuhe ausgezogen, die er sonst immer trug, auch im Sommer. So sah man seine Hände, durchaus markante Hände. Auf jedem Fingerknöchel war ein kleiner schwarzer Drache eintätowiert. Als er in sein Auto stieg, um den Malers nachzufahren, hatte er die Handschuhe wieder angezogen.
5
Die Festung
Die Stromstöße an den Hand- und Fußgelenken. Die Schmerzen vom Liegen in der immer gleichen Position. Der Hunger, der sich langsam zu einem Ungeheuer entwickelte, das in seinem Körper tobte. Gabriel Tretjak war in keiner guten Verfassung. Kartenspieler wie sein Vater hätten gesagt: kein gutes Blatt.
Aber weder sein Vater damals noch die Person, die ihn hier zu quälen versuchte, niemand hatte eine Ahnung von dem Trumpf, den Gabriel Tretjak immer in der Hand hielt. Eine Karte, die er schon öfter in seinem Leben hatte ausspielen müssen. Es war die Festungskarte. So nannte er sie. Gabriel Tretjak war in der Lage, sich in eine innere Festung zurückzuziehen, in der ihm niemand etwas anhaben konnte. Seine Seele, seinen Verstand, seine Empfindungen – alles konnte er dort in Sicherheit bringen. Das hatte schon als Kind funktioniert, und es funktionierte auch in diesem Raum, der längst nicht mehr nach Arztpraxis roch, sondern nach Urin, seinem eigenen Urin, weil es nicht reichte, wenn jemand seinen Schwanz nur einmal am Tag in eine Flasche stopfte. Und es roch nach seinen Exkrementen, weil ihn niemand saubermachte, nachdem man ihm die Schüssel unter dem Hintern weggezogen hatte. Aber das würde sowieso bald aufhören. Wer nichts aß, musste auch nichts verdauen.
In Tretjaks Festung war es still. Es gab dort keine Geräusche. Und es gab dort auch keine Gerüche. Es gab nur klare, pure Gedanken. Gedanken, die nach keiner sprachlichen Formulierung suchten, weil sie nie ausgesprochen werden würden. Gedanken, die auf nichts und niemanden Rücksicht nahmen, auch nicht auf ihn selbst. Mit der Tatsache, dass er sterben sollte, hatten diese Gedanken kein Problem. Der Tod war nichts, worüber man nachdenken musste. Er passierte, ganz sicher, ohne den geringsten Zweifel. Ob heute oder in zwanzig Jahren – in der Zeitrechnung des Orionnebels war dieser Unterschied nicht wahrnehmbar. Ein Menschenleben war dort nur ein Wimpernschlag.
Nein, die Gedanken in Tretjaks Festung suchten nach dankbareren Aufgaben. Wie konnte man aus dieser Situation entkommen?, zum Beispiel. Oder: Wie konnte man verhindern, dass Sophia Welterlin etwas zustieß? Wer war die Person hinter der Stimme? Hatte sein Gehirn wirklich alle Informationen aufgenommen und miteinander in die richtige Beziehung gesetzt? Was hatte er übersehen?
Manchmal beschäftigten sich seine Gedanken mit Carolas Haut. Sie tasteten sie Zentimeter für Zentimeter ab. Was wäre geschehen, wenn er sie damals vor neun Jahren nicht verlassen hätte? Wenn er den Mut gehabt hätte, ihr die Wahrheit zu sagen – über sich, über sie, über das Leben. Wäre er dann jetzt auch hier? Festgeschnallt auf diesem Stuhl? Vielleicht nicht. Oder war Carola die Person hinter dieser Stimme? Cherchez la femme, such die Lösung bei der Frau – sollte er das noch einmal, wieder einmal erleben?
Ein paar Gedanken jedoch waren verboten in seiner Festung. Gedanken an Luca zum Beispiel, seinen Bruder. Sackgasse. Keine Sackgassen, bitte. Aber wenn er schlief, kamen die Träume. Gab man ihm Drogen, in dem Wasser aufgelöst? Sonst träumte er selten oder konnte sich jedenfalls nicht daran erinnern. Aber hier war es anders, und immer wieder war es Luca, war es diese Szene in der Umkleidekabine am Schwimmbad des Hotels »Zum blauen Mondschein«. Im Prinzip
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