Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
immer wieder dieselbe Szene, aber sie lief jedes Mal anders ab, es gab immer irgendeine Variation, und es kam Tretjak vor, als warte er schon auf diese Variation, quasi mit Bewusstsein, während er träumte. Einmal waren sie beide schon erwachsen, mindestens so alt, wie sie tatsächlich heute waren, aber trotzdem rochen sie heimlich an den Badeanzügen der Frauen. Luca mit einem alten, faltigen Gesicht …
»Sprechen wir über die Physikerin, Herr Tretjak«, sagte die Stimme aus dem Lautsprecher in ihrer gnadenlosen Freundlichkeit. »Sie helfen einer Frau, die einen Mann in den Selbstmord getrieben hat – aus kalter Berechnung, nur für ihre Karriere. Ich habe mich ja ein bisschen mit dem Leben dieser Frau beschäftigt. Habe mit ihren Feinden geredet. Die einen haben mir Fotos gegeben, die anderen eine widerliche Anekdote nach der anderen erzählt. Eine schreckliche Frau, diese Welterlin. Sie helfen einer widerlichen Intrigantin. Haben Sie Skrupel? Nein. Ein schlechtes Gewissen? Nein. Habe ich recht?«
»Ja«, sagte Gabriel Tretjak.
»Und jetzt will sie sich auch noch zur Herrin über die Zeit aufschwingen. Es ist an der Zeit, diese Person aus ihren Ferien zurückzuholen, finden Sie nicht? Genug des Dolce Vita am Strand. Wir werden ihr eine SMS schicken, von Ihrem Handy natürlich, Herr Tretjak. Sie dürfen sie formulieren.«
»Wie lange darf ich überlegen?«
»Gar nicht. Sagen Sie den Text.«
»Okay«, sagte Tretjak. Er diktierte: »Liebe Frau Welterlin, Sie können in drei Tagen zurückkommen. Es ist alles aufgeklärt. Genießen Sie die Tage. T. PS: Denken Sie an die Anomalie des Wassers.«
»Die drei Tage streiche ich«, sagte die Stimme.
»Sie sagten, ich darf formulieren.«
»Ich sagte: Jetzt ist Zeit, Frau Welterlin zurückzuholen. Jetzt. Sagte ich.«
Tretjak schwieg.
»Was hat das zu bedeuten: die Anomalie des Wassers?«
»Fast alle Stoffe werden leichter, wenn sie sich erwärmen – und schwerer, wenn sie abkühlen«, sagte Tretjak. Er spannte seine Muskeln an, weil er jede Sekunde mit einem Stromschlag rechnete. »Nur bei Wasser gibt es eine Anomalie. Beim Abkühlen wird Wasser plötzlich leichter statt schwerer, und zwar bei genau vier Grad Celsius. Deshalb frieren Gewässer an der Oberfläche zu und nicht von Grund auf. Diese Anomalie schützt das Leben.«
Es war eine Weile still in dem kleinen Lautsprecher hinter ihm. »Und warum haben Sie es geschrieben?«, fragte die Stimme schließlich.
»Das hatte nur einen Grund«, sagte Tretjak. »Ich wollte wissen, ob Sie Physiker sind. Sie sind es nicht.«
Er hatte sich geschworen, nicht zu schreien, egal, was passieren würde. Aber bei der Stärke des Stromstoßes, der jetzt kam, waren solche Schwüre Makulatur.
6
Carola
Carola Kern wusste genau, dass die Bezeichnung »Teeladen« für ihr Geschäft eine ziemliche Untertreibung war. Aber ihr gefiel das Wort. Und sie sagte gern den Satz: »Ich habe einen Teeladen.«
So stand es auch in goldener Schrift auf den dunkelgrün gestrichenen Flächen über den Schaufenstern: Carolas Teeladen . Hier in Luzern war seit drei Jahren in kleinerer Schrift darunter vermerkt: Stammhaus . Ihr Geschäft hatte inzwischen drei Filialen, eine in St. Moritz, eine in Zürich und eine in Lausanne. Die besten Teesorten der Welt, ungewöhnliche eigene Mischungen, ausgesuchte Accessoires und inzwischen sogar die Organisation besonderer Reisen auf den Spuren des Tees – das war ihr Geschäft. Und eine persönliche Beziehung zu ihren Produzenten und Lieferanten ebenso wie zu guten Kunden – das war ihr Stil. Carola Kern verstand es, Tee wie ein Luxusgut zu behandeln, ihren Kunden das Gefühl zu geben, Teil einer großen Kultur zu sein, einer aufregenden Welt des Genusses. Sie wusste, dass sie auch mit Ende dreißig noch eine sehr schöne Frau war, dass ihr die dunkelgrüne Schürze und die weiße Bluse gut standen, in denen sie immer noch fast jeden Tag hinter dem Verkaufstresen ihre Kunden selbst bediente.
Ihr Laden hatte eine dieser alten Drehtüren aus Palisanderholz und Glas. Wenn jemand den Laden betrat und die Tür sich drehte, gab es immer einen kurzen Moment, in dem sie ihr Spiegelbild sah. An diesem Vormittag wartete sie förmlich auf die richtige Position der Tür, weil sie ihre neue Frisur begutachten wollte. Gefiel er ihr, dieser neue, etwas burschikose Schnitt? Die kürzeren Haare nahmen ihren großen Rehaugen das Melancholische, fand sie. Ob es Gabriel gefallen hatte? Eine Frage, zu deren Antwort
Weitere Kostenlose Bücher