Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)

Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)

Titel: Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Landorff
Vom Netzwerk:
es nicht gelungen, dich zu beschützen, Harry. Und ich bin daran schuld.
    Wie lange versuchte Gabriel Tretjak nun schon, sich zu erinnern? Wie viele Stunden, Tage? Wie lange schon verweigerte ihm sein Gehirn die Information, was geschehen war? Auf welche Weise er hierhergelangt war? In diesen Raum? Auf diesen Stuhl?
    »Wenn etwas Schlimmes passiert, sagen wir, ein Mann fällt vor den Zug und ihm wird ein Bein abgefahren«, hatte Kerkhoff einmal erklärt, »dann konzentriert sich das Gehirn nur auf die eine Frage: Wie können wir überleben? Dafür müssen alle Kräfte mobilisiert werden. Und es ist gut, wenn die Informationen rund um den Unfall gelöscht werden. Dem Menschen nützt es nichts, wenn er die Bilder gespeichert hat: wie der Zug herannaht, wie er stürzt … Es hilft ihm nicht, wenn er die Geräusche gespeichert hat, die Geräusche der Eisenräder, die seine Knochen durchschneiden, das Schreien der Menschen … Die Gerüche, den Geruch von Blut, von viel Blut, von frischem, spritzendem Blut. All das wiederholt nur immer wieder das schreckliche Ereignis, es lähmt, es schwächt den Organismus. Deshalb ist es vernünftig, wenn das Gehirn diese Dateien löscht. Weg damit. Ein für alle Mal.«
    Gabriel Tretjak hatte trotzdem das Gefühl, dass sein Gehirn gerade einen Fehler machte, und suchte nach Anhaltspunkten, um an die versteckten Informationen zu gelangen. Seine Kleidung? Er steckte in Jeans und einem schwarzen Pullover mit V-Ausschnitt. Das war nichts Besonderes und nicht geeignet, Erinnerungen auszulösen. In seinem Kleiderschrank existierten zehn solcher Pullover und zehn Paar Bluejeans. Es war fast eine Art Uniform. Wäre es ein Smoking gewesen, ja, dann hätte er vielleicht eine Chance gehabt, aber so?
    Die letzte Erinnerung, die präzise war, zeigte ihn in der Küche von Sophia Welterlin, nachts, am Telefon mit Kommissar Maler in München. Das wusste Tretjak noch genau, dass er Maler die Geschichte der vier von Kattenbergs erzählt hatte. Die unter einem neuen Namen an verschiedenen Orten der Welt ein neues Leben angefangen hatten. Mit seiner, Tretjaks, Hilfe. Und seinem, Tretjaks, Namen.
    Er hatte an dem Tag beschlossen, die Polizei zu seinem Verbündeten zu machen. Dazu schien ihm dieser Maler am besten geeignet zu sein, auch wenn er gesundheitliche Probleme hatte. Aber das konnte sich durchaus auch mal als Vorteil erweisen. Maler war jedenfalls klug, und Maler hatte ein Motiv, die Mordfälle aufzuklären. Gritz war sein engster Kollege gewesen.
    Ein paar weitere Bruchstücke gab es noch in Tretjaks Erinnerung. Er musste auch im Forschungszentrum CERN gewesen sein, in Welterlins Institut. Ein Gespräch hatte dort stattgefunden im Auto, auf dem Parkplatz, mit einem jungen Kollegen von Sophia Welterlin. Aber diese Erinnerung tauchte nur in Form von Bildblitzen in seinem Kopf auf, ohne Ton. Bilder, die plötzlich von anderen Gedankengängen zerhackt wurden. Wie auch die Bilder von Carola. Hatte er sie noch einmal getroffen? War er noch einmal in Luzern gewesen? Oder war sie nach Genf gekommen? Ihr lachendes Gesicht vor einer Tasse Kaffee … Stammte das aus seinem Gedankenarchiv, ein Bild von vor neun Jahren? Oder war es neu? Sie hatte jedenfalls die Haare irgendwie anders gehabt. Wie viel Zeit war überhaupt vergangen? Hatte sein Gehirn Stunden gelöscht? Tage? Wochen?

    In dem Raum, in dem er sich befand, hatte sich etwas verändert. Oder besser gesagt, man hatte etwas verändert. Er musste geschlafen haben oder nicht bei Bewusstsein gewesen sein. Es war jetzt hell im Raum, Tageslicht. Man hatte den Stuhl, auf dem er festgeschnallt war, offenbar gedreht. Tretjak blickte nun auf ein Fenster, ein Fenster in einer weißen Wand. Es war ziemlich groß, quadratisch, es hatte keine Vorhänge, auch keine Rollos, jedenfalls keine sichtbaren. Es hatte ein schmales, weißes Fensterbrett, auf dem aber keine Gegenstände standen. Das Fenster gab den Blick auf die Spitzen von Baumkronen frei, fünf, sechs davon, eine Birke war dabei, eine Eiche, die ganz rechte gehörte vielleicht einer Kastanie. Der Raum musste sich an einem ziemlich hohen Punkt eines Gebäudes befinden, dachte Tretjak, vierter Stock mindestens. Er sah nur Himmel und die Zweige mit dem Laub, dessen Farbe schon deutlich auf Herbst verwies.
    Vor dem Fenster stand ein Gegenstand, der ihm vertraut war. Er stand auf einem Stativ aus schwarzem Metall. Es war ein ziemlich großes Fernrohr, eines, das man zum Betrachten der Sterne und Planeten

Weitere Kostenlose Bücher