Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
sein Lächeln, als er sich noch mal umgedreht hatte.
Er war nicht zurückgekommen. Und sie hatte seit fünf Tagen keine Nachricht. Wieder war er mir nichts, dir nichts aus ihrem Leben verschwunden. Carola Kern konnte nicht auf ihre innere Stimme hören. Sie konnte den Mann im Wollmantel nicht wegschicken.
7
Die Nachricht
Sie waren in einem kleinen Laden mit Kleidern und Blusen, als Tretjaks SMS ankam. Sophia Welterlin hörte das Handy in ihrer Handtasche piepsen. Sie stand gerade in der Umkleidekabine und knöpfte das dunkelblaue Kleid zu, das weiße Punkte hatte und vorne eine lange Knopfreihe von oben bis unten. Vielleicht war es ein bisschen zu mädchenhaft für ihren Typ, aber warum nicht? Mal sehen, im Spiegel. Die Handtasche hielt ihr Vater, der vor der Kabine auf und ab ging. Sie wusste, er hatte Hunger und wollte zum Essen. Sie hatten in dem einzigen Restaurant der Gegend reserviert, das eine Erwähnung im Guide Michelin hatte. Es lag in Populonia Alta, einem kleinen Ort auf dem Felsen, der über der Bucht von Baratti thronte. Der Ort bestand aus einer einzigen geraden Straße, rechts und links ein paar Bars, eine Trattoria, das Restaurant und – direkt gegenüber – der Kleiderladen, der es Sophia Welterlin angetan hatte. Sie war überrascht gewesen, hier oben nicht den üblichen Touristenshop vorzufinden, sondern diese geschmackvolle Boutique.
Sie wusste, dass die SMS von Tretjak kam, schließlich hatte nur er die Nummer dieses Telefons. Am Anfang war es ihr nicht leichtgefallen, so ohne ihr iPhone, ohne ihren Laptop, es hatte sich schon ein bisschen wie ein Entzug angefühlt. Aber nach und nach hatte sie immer mehr Gefallen daran gefunden, an dieser Kommunikationspause, die ja auch bedeutete: Pause von den Sorgen und Ängsten, Pause von Verabredungen, Pause vom Job, Pause von Informationen. Pause vom normalen Sophia-Welterlin-Sein. Ihr Vater gab ihr die Handtasche, er ließ sich seine Ungeduld nicht anmerken, er wusste, was sich gehörte. Heute war Sophias Geburtstag. Sie konnte so lange Kleider anprobieren, wie sie wollte – dies versuchte er mit einem Gesichtsausdruck zu zeigen. Sie lächelte ihn an und las die Nachricht.
Liebe Frau Welterlin, Sie können zurückkommen. Es ist alles aufgeklärt. Gute Reise, T.
Dann kramte sie einen Zettel aus ihrer Handtasche, entfaltete ihn – und las die Nachricht noch einmal. Wort für Wort verglich sie.
Liebe Frau Welterlin, Sie können zurückkommen. Es ist alles aufgeklärt. Gute Reise, T.
Sie blickte auf und merkte, dass ihr Vater sie besorgt ansah. »Stimmt etwas nicht?«, fragte er.
»Vater, ich muss abreisen«, sagte sie. »Leider.«
»Was? Wieso denn? Ohne mich?«
»Sofort«, sagte sie und begann mechanisch, die lange Reihe der Knöpfe wieder zu öffnen. »Du bleibst hier«, sagte sie. »Du gehst in das Restaurant, behältst den Wagen, bleibst noch ein paar Tage im Hotel, wenn du magst.« Sie war schon auf dem Weg in die Umkleidekabine. »Gibt es hier ein Taxi?«, sagte sie zu der netten Verkäuferin. »Bitte rufen Sie mir eines. Ich muss zum Flughafen in Rom.«
»Fliegst du nach Genf zurück?«, hörte sie ihren Vater fragen.
»Nein«, antwortete sie.
»Sophia …«
Sie drehte sich um und sah ihren Vater, wie er mitten im Laden stand, ratlos, immer noch die Handtasche fest umklammert vor dem Bauch, als wollte sie ihm jemand wegnehmen.
»Es ist etwas schiefgegangen, Vater«, sagte sie. »Mit meinen Plänen ist etwas schiefgegangen.«
Elf Minuten später saß Sophia Welterlin in einem weißen Taxi auf dem Weg nach Rom. Sie hatte nur zwei Dinge bei sich auf dem Rücksitz: ihre Handtasche und eine Plastiktüte mit dem blauen Kleid. Ist doch dein Geburtstag, hatte ihr Vater gesagt. Heute hingen ein paar Wolken über dem Meer. Deshalb konnte sie die Sonne an diesem Tag nicht untergehen sehen. Sie sah nur einen glutroten Streifen am Horizont.
»Bellissimo«, sagte der Taxifahrer. Aber sie hörte nicht hin.
8
Eine Erinnerung
Was immer dein Gehirn auch tut – es tut es, um dich zu schützen. Sein Freund Kerkhoff hatte ihm das immer gepredigt. »Das ist der Auftrag des Gehirns«, hatte er oft wiederholt, »einen anderen Auftrag gibt es nicht.« Harry Kerkhoff, der Gehirnforscher, der hochdekorierte Professor, der schließlich ermordet aufgefunden worden war, in einem Pferdetransporter – die Leber durchbohrt, die Augen ausgestochen. Harry. Tretjak dachte an ihn, an seinen fordernden Blick, sein provozierendes Lachen. Deinem Hirn ist
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