Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
benutzte. Es war einen Meter lang und zehn Zentimeter dick, Öffnungsdurchmesser 106 Millimeter. Ein sogenannter Refraktor, in dessen Innerem sich ein ausgeklügeltes System aus Vergrößerungslinsen befand. Einsatzbereit, mit abgenommenen Schutzkappen und eingeschraubtem Okular, stand es in einem leicht schrägen Winkel gen Himmel gerichtet. So hatte er das öfters gesehen, in teuren Villen und Penthousewohnungen: ein schickes Fernrohr vorm Fenster, durch das aber nie jemand schaute, weil man so gar nicht wirklich etwas sehen konnte. Um das Weltall zu beobachten, musste man nach draußen, wo keine Glasscheiben störten und keine Heizungen die Luft verwirbelten. Und man musste in die Nacht hinaus, in die möglichst stockdunkle Nacht. Tretjak sah, dass es ein Fernrohr der Marke Televue war, eine der besten auf dem Markt. Er selbst hatte als Junge ein Televue benutzt, ein kleineres allerdings, kürzer, schmaler, und nicht schwarz, sondern messingfarben. Es war ein Geschenk seiner Tante gewesen. Gabriel Tretjak hatte nahezu nichts aus seiner Kindheit mitgenommen in sein Erwachsenenleben, er umgab sich überhaupt mit wenigen Gegenständen, behielt die Dinge nur so lange, wie sie ihm von Nutzen waren. Leichtes Gepäck war ihm immer wichtig gewesen. Das Fernrohr allerdings gab es noch. Sogar die Originaltasche, dunkelblau, die er sich damals immer umgehängt hatte, wenn er seine Reisen zu den Sternen angetreten hatte, seine Fluchten aus einer furchtbaren Welt.
Die Stimme aus dem Lautsprecher hinter ihm kam plötzlich und unerwartet. Tretjak erschrak. Das geschah gelegentlich. Manchmal hörte er das leise Rauschen nicht, mit dem sich die Stimme ankündigte, weil der Lautsprecher eingeschaltet wurde. War er dann so in Gedanken versunken gewesen? Oder war das Absicht, konnte man das Gerät auch ohne Geräusch einschalten, und er sollte erschreckt werden?
»Sie sind der Großmeister im Verändern von Biographien«, sagte die Stimme. »Sie spielen mit ihnen wie der Drehbuchschreiber einer billigen Fernsehserie. Das ist doch Ihr Geschäft. Habe ich recht?«
»Ja«, antwortete Tretjak. Er hatte inzwischen gelernt, die Stromstöße so weit wie möglich zu vermeiden.
»Die Menschen kommen zu Ihnen, wenn sie ihrer Biographie eine neue Wendung geben wollen«, fuhr die Stimme fort, »oder eine neue Logik, eine neue Perspektive. Sie löschen dann Fakten aus Biographien, Sie geben ihnen sogar nachträglich neue Verläufe, Sie verändern das Beziehungsgeflecht von Menschen, reißen sie aus ihren gewohnten Zusammenhängen, schaffen neue. Und Sie fühlen sich dabei keinerlei Moral verpflichtet. Nur den Wünschen Ihrer Auftraggeber.«
»Aber ich nehme nicht jeden Auftrag an«, sagte Tretjak. »Was Sie sagen, gilt nur, wenn ich den Auftrag angenommen habe.«
Tretjaks Körper war durch einige schlimme Phasen gegangen, am schlimmsten waren die Muskelkrämpfe gewesen. Waden, Oberschenkel, Brustmuskeln, sogar die Hände. Da er sich nicht bewegen konnte, war ihm immer nur eines übriggeblieben: aushalten. Im Moment waren beide Beine eingeschlafen, und sein Kopf fühlte sich wie Matsch an. Er war die Diskussion mit der Stimme leid, war manchmal kaum in der Lage, den Worten zu folgen. Aber er wollte keine neuen Stromstöße.
»Ist Moral ein Molekül? Ein Molekül, das Recht und Unrecht voneinander abspalten kann? Was meinen Sie?«
Die freundliche Frauenstimme. Wenn jemand solche Texte von ihr vorlesen ließ, waren diese Texte dann irgendwo gespeichert? Konnte man sie irgendwo im digitalen Kosmos wiederfinden?
Die freundliche Frauenstimme. »Vielleicht fehlt Ihnen dieses Molekül, Herr Tretjak? Wie den Japanern eines fehlt, um Milch zu verdauen …«
Pause.
»Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Es gab doch ein Rollo vor dem Fenster. Jetzt fuhr es herunter, der Raum wurde dunkel. Tretjak spürte, wie sein Stuhl sich drehte, eine Vierteldrehung nach rechts, 90 Grad, registrierte er. Der Beamer wurde wieder eingeschaltet, warf ein Bild an die Wand. Es zeigte ein Gesicht, auf dessen Schläfe von der Seite eine Pistole mit Schalldämpfer gerichtet war. Tretjak erkannte erst nach ein paar Sekunden, dass es sich um den Mathematiker aus dem Team von Sophia Welterlin handelte. Gesichter veränderten sich, wenn Angst von ihnen Besitz ergriff. Ihm fiel der Name ein: Gilbert Kanu-Ide. Und jetzt erinnerte er sich auch an sein Gespräch mit ihm, seinen Auftrag.
»Sie denken nicht darüber nach, was mit Menschen geschieht, die Sie benutzen«, sagte
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