Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
Bände. Bis dahin hatte Tretjak Carola noch nicht kennengelernt. Später fragte er sich oft, ob er dann anders gehandelt hätte. Er fürchtete: nein.
Die Einzelheiten. An den Einzelheiten war sie sehr interessiert. Hatte die Stimme gesagt. Wer kannte die Einzelheiten? Tretjak hatte damals für Carola die Chance organisiert, einen Kindheitstraum zu leben. Von einem früheren Auftrag kannte er einen erfolgreichen indischen Teeproduzenten, der gerade in Europa Partner suchte. Dieser Mann und ein anderer Mann, der Investoren für vielversprechende Läden in Schweizer Innenstädten an der Hand hatte, schnürten ein interessantes Paket. Tretjak selbst trat als Immobilienvermittler auf. Und sorgte dafür, dass die Journalistin Carola Kern bei der Arbeit an einem kleineren Artikel über die Lage auf dem Münchener Immobilienmarkt auf ihn traf. Ihre erste Begegnung hatte in einer kleinen Panini-Bar im Asamhof stattgefunden.
Ein Stromstoß riss ihn hoch. »Haben Sie mir zugehört, Herr Tretjak?«, fragte die Stimme.
»Nein.«
»Sie warten auf Ihre Gelegenheit, dieser Situation hier zu entkommen, nicht wahr?«, sagte die Stimme. »Vergessen Sie es. Das Einzige, worauf Sie noch warten können, ist Ihr Tod. Ist doch irgendwie erleichternd, stelle ich mir vor.«
Tretjak war plötzlich hellwach, seine Gedanken waren vollkommen klar. Warten … Worauf Sie warten können … Kannst du einfach hier warten … Plötzlich begann sein Gehirn Informationen freizugeben. Das Café, ihr Lachen, sein Satz zu ihr: Kannst du einfach hier warten. Eine Nachricht war gekommen …
»Ich möchte Sie auf unser nächstes Thema vorbereiten, Herr Tretjak«, kam es aus dem Lautsprecher. »Wenn ich mich wieder melde, werden wir die Perspektive wechseln und ein bisschen mit Ihrer Biographie spielen. Sie können schon mal drüber nachdenken: Was würden Sie an Ihrer Biographie geändert haben wollen, wenn ich der Regler wäre?«
Er hörte, was die Stimme sagte, aber sein Gehirn lenkte es gleich um auf die andere Spur. Luzern, dort hatten sie sich getroffen, das hässliche Café neben dem Parkhaus … Nach und nach wurde die Szenerie deutlicher. Wie beim Pferdekopfnebel, dachte Tretjak. So war es auch gewesen, als er als Junge versucht hatte, den Pferdekopfnebel im Sternbild Orion zu sehen. Einen ganzen eisigen Winter lang hatte er durch das Fernrohr auf die Stelle gestarrt, wo sie sein musste, die schwarze Materiewolke, die aussah wie ein Pferdekopf. Einen ganzen eisigen Winter lang hatte er dort nichts gesehen – bis zu einer Nacht Mitte Februar. Plötzlich hatte das Bild begonnen, sich aufzuhellen, erst langsam, dann immer schneller, und dann war der berühmte Nebel vor seinem Auge erschienen, klar und deutlich.
Die Nachricht auf dem Handy, jetzt wusste er sie wieder: Gabriel, ich bin auch in Luzern. Muss dich treffen, sofort, ist wichtig. Dauert nicht lange. Geh einfach zurück ins Parkhaus. Ich warte bei deinem Wagen. Und er wusste auch wieder, wer sie verfasst hatte. Ein L stand am Schluss der Nachricht, nur dieser Buchstabe. Lichtinger. Sein Freund Joseph Lichtinger hatte ihn aus dem Café geholt. Das Parkhaus, der Lift nach ganz oben, letztes Deck … Sex … Hier hatten sie davor Sex gehabt, Carola und er … Am Wagen wartete niemand, er drehte sich um … Dann der Schlag, der gewaltige Schlag auf den Kopf, das weiße Licht, das aufschien und dann ausgeknipst wurde.
Lichtinger? Tretjak begriff, warum ihm sein Gehirn diese Information vorenthalten hatte. Er blickte auf die schaukelnden Baumkronen. Wo auch immer er sich hier befand, dachte er, nur ein paar Meter entfernt lief das ganz normale Leben ab. Aber zum ersten Mal zweifelte er daran, je wieder dorthin zurückzukehren.
9
Der Falke
Der Handschuh war aus dem besonders dicken Leder des Wasserbüffels genäht, nach dem genauen Maß seiner linken Hand. Er hatte einen extralangen Schaft und einen eingenähten Ring, an dem man den Vogel festmachen konnte. Joseph Lichtinger liebte den Druck der Klauen, den man durch das Leder spüren konnte, und das Gewicht auf dem Unterarm. Bei seinen größten Falken waren es zwei Kilogramm.
Es war später Vormittag, und hier oben im Bergmassiv Ritten über Bozen spürte man schon sehr deutlich, dass der Winter kam. Die Luft war frisch und kühl, die Lärchenwälder waren schon goldgelb, bald würden die Nadeln abfallen. Der Pfarrer Joseph Lichtinger aus Niederbayern hatte sich hier oben ein zweites Zuhause aufgebaut, für sich und seine
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