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Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)

Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)

Titel: Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Landorff
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Vögel. Eine ziemlich abseits gelegene große Blockhütte. Die Leute hier nannten ihn den »Mann, der bei den Adlern wohnt«. Das war Unsinn, denn seine Vögel waren Falken, keine Adler. Allerdings konnte man die großen Gerfalken durchaus mit Adlern verwechseln. Es waren die einzigen Falken, die gelegentlich am Himmel kreisten, wenn sie Beute suchten. Die anderen Falken spähten ihre Opfer im Baum sitzend aus und flogen dann pfeilgerade darauf zu.

    Joseph Lichtinger war ein mittelgroßer Mann mit sehr sportlicher Figur, strohblonden Haaren und hellblauen Augen. In seiner Heimat Niederbayern nannten ihn die Einheimischen schon seit seiner Kindheit deshalb »der Schwede«. Was es wohl zu bedeuten hatte, fragte er sich, dass er in beiden Lebensräumen Spitznamen verpasst bekommen hatte? Gabriel Tretjak hatte ihm nie einen gegeben, aber auch Tretjak hatte so gut wie nie seinen Vornamen benutzt. Lichtinger. Für Tretjak war er immer nur ein Wort gewesen: Lichtinger.
    Joseph Lichtinger hielt sich für einen halbwegs guten Pfarrer. Er konnte sich gut in die Nöte, Sorgen und Freuden der Leute in den Bauerndörfern seiner Gemeinde hineindenken, sogar hineinfühlen. Aber er brauchte zwischendurch auch Abstand. Zwischendurch musste er raus aus dieser Welt, in der Ansichten genauso eingemacht wurden wie Marmeladen, wo die Blumen auf den Balkonen genauso Fassade waren wie die freundlichen »Grüß Gotts« aus den Mündern der Menschen. Jedenfalls konnte einem das manchmal so vorkommen, und dann schnürte es einem den Brustkorb zusammen.

    An diesem Vormittag wollte Lichtinger mit einem der beiden weißen Gerfalken trainieren, die seine wertvollsten waren. Er hatte sie auf einer Auktion im Libanon ersteigert, vor vier Jahren. Als der Vogel auf seinem Unterarm saß, ließ sich Lichtinger zuerst auf einem Baumstumpf nieder. Das Gesicht des Falken war ganz nah an seinem. Dieser Blick hatte ihn immer besonders fasziniert. Die großen dunklen Augen, die ein Gesichtsfeld von 180 Grad überblickten, ohne dass das Tier den Kopf bewegen musste. Bei Menschen waren die Augen ständig in Aktion, wanderten hin und her, immer damit beschäftigt, neu zu fokussieren, aus vielen kleinen Bildern ein großes zusammenzusetzen. Falken – so kam es Lichtinger vor – hatten immer alles gleichzeitig im Blick. Nichts war so wichtig, dass man alles andere außer Acht lassen konnte.
    Er war relativ spät in seinem Leben auf die Vögel gekommen. Da war er schon fast dreißig Jahre alt gewesen, hatte die erste große Lebenskrise hinter sich gehabt. Physikstudium geschmissen, am Sinn des Daseins gezweifelt, Drogenexzesse, Weltreise, Erfahrungen mit Voodoo und Spiritualismus … Dann das Theologiestudium, sein Weg zum Pfarrer, zum katholischen Pfarrer. Ein paar Frauen konnten seine Entscheidung gar nicht begreifen. Sein Freund Gabriel auch nicht, aber der hatte nur gelacht.
    In dieser Zeit, auf einer Reise nach Sizilien, war er in Palermo einem ziemlichen verrückten Typen begegnet, der ihn zu den Falken gebracht hatte. Der Typ war schon rund achthundert Jahre tot und lag eingeschlossen in einem Sarkophag. Er hatte Jerusalem erobert, aber nicht mit dem Schwert, sondern mit Verhandlungen. Er war ein begeisterter Naturwissenschaftler gewesen und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Joseph Lichtinger hatte sich mit Begeisterung in die Biographie des Stauferkönigs Friedrich II. eingegraben, der wie ein Straßenjunge in Palermo aufgewachsen war und zu den ungewöhnlichsten Figuren der Geschichte gehörte. Er hatte sich mit dem Papst angelegt, den Islam toleriert. Und sein wissenschaftliches Buch über Falken galt immer noch als Standardwerk. Zwischen der Lektüre und Lichtingers Prüfung zum Falknerschein lag nur ein Jahr.

    Vielleicht war es der Blick des weißen Gerfalken, der Lichtinger dazu brachte, an diesem Vormittag seine Pläne zu ändern. Seit Tagen war etwas nicht passiert, das sonst jeden Tag passierte. Jeden Morgen, das ganze Jahr über, seit vielen Jahren schon, kam ungefähr um neun Uhr eine SMS von Gabriel. Sie enthielt immer nur ein Wort, ein banales Wort. Okay , stand da jeden Morgen auf dem Display. Okay. T. Joseph Lichtinger wusste genau, was es bedeutete, wenn diese SMS ausblieb. Sie hatten für diesen Fall eine Abmachung. Aber vielleicht bedeutete es längst etwas anderes, was hatten sie sich denn noch zu sagen, Gabriel und er? Vielleicht inzwischen nicht mal mehr das Wort »Okay«. Was war eine Abmachung wert, die so lange

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