Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
die Stimme. »Dieser hier wird sterben.«
Der Beamer wurde ausgeschaltet, der Stuhl drehte sich wieder, das Rollo vor der Fensterscheibe fuhr nach oben. Draußen musste Wind aufgekommen sein. Die Äste der Bäume schaukelten.
»Wer weiß, was aus der Journalistin Carola Kern geworden wäre, wenn Sie ihre Biographie nicht in eine Sackgasse umgeleitet hätten. Die Sackgasse eines Teegeschäftes.«
Die Stimme verstummte. Mit Absicht, das war klar. Wer auch immer hinter der Stimme steckte – er verstand sich auf Bösartigkeiten. Es war Absicht, dass diese Worte im Raum stehenblieben. Und dieser Name. Carola. Tretjak hätte nicht sagen können, wie lange sich seine Gedanken in den Himmel über den Baumkronen bohrten, ehe der Lautsprecher wieder etwas von sich gab.
»Sie denken nicht daran, was mit den Menschen geschieht, die Sie benutzen. Habe ich recht?«
Tretjak sagte nichts. Er hatte es schon ein paar Male versucht: sich auf einen Stromstoß vorzubereiten, ihm gewissermaßen etwas entgegenzusetzen. Angespannte Muskeln zum Beispiel oder Konzentration auf etwas ganz anderes. Aber es hatte alles nichts geholfen. Wenn der Stromstoß kam, traf er einen jedes Mal wie ein Blitz. Dieser jetzt war mittelstark und kurz.
»Habe ich recht?«
»Vielleicht.«
»Carola Kern wurde inzwischen informiert, welche Rolle Sie damals gespielt haben. Ich kann Ihnen mitteilen: Sie war sehr interessiert, auch an den Einzelheiten, an allen Einzelheiten.«
Carola. Ihr Lachen vor der Tasse Kaffee. Wann war das? Carola. Der erste Name auf seiner Liste von Menschen, von denen er sagen konnte, dass er ihnen vielleicht vertraute. Carola. Der Sommer in München, ihrer beider Sommer, die Abende, die Nächte. Carola Kern, die Journalistin, zuerst nur ein Name, ein Foto – und eine Gewissheit, ein Auftrag. Diese Journalistin musste ausgeschaltet werden. Der eine der von Kattenbergs, der Bankier, hatte da eine besondere Leidenschaft an den Tag gelegt. Gleich zwei Detekteien hatte er beauftragt, um Erpressungsmaterial zu beschaffen. Tretjak hatte einen anderen Weg eingeschlagen. Wenn sich eine Person von etwas abwenden sollte, das ihr wichtig war, dann war Druck keine gute Lösung, das wusste er aus Erfahrung. Druck machte nur deutlich, dass die Sache noch interessanter war als ohnehin vermutet, und früher oder später würde sich die Person dieser Sache erneut widmen. Die bessere Methode bestand darin, von der Sache abzulenken, die Person zu etwas Neuem, ganz anderem zu verführen. Freiwillig sollte Carola Kern die Story über das Geld der von Kattenbergs aufgeben, an der sie gerade recherchierte – das war Tretjaks Plan gewesen. Er durchleuchtete sie auf Hobbys, Leidenschaften, Begierden, heimliche Träume und Ziele. Zunächst allerdings ohne jeden Erfolg. Nirgends ein Ansatzpunkt. Die Kerns waren eine schrecklich normale Familie, die Eltern beide Beamte am Verwaltungsgericht in Karlsruhe, Carola dort geboren und aufgewachsen, ein Einzelkind, später Journalistenschule in München, Redakteurin beim »Münchner Merkur«. In den Ferien in Kroatien hatte sie mal einen Segelschein gemacht und gelegentlich gesagt, sie träume davon, monatelang durchs Mittelmeer zu schippern … So etwas gab es, aber das war nicht stark genug.
Es war ihre Schweizer Großmutter, die schließlich – ohne es zu wissen natürlich – dem Dossier die entscheidende Information hinzugefügt hatte. Plötzlich gab es ein paar Absätze über Carola Kerns verstorbenen Großvater in Luzern. Und plötzlich tat sich eine Tür auf.
Der Großvater war Schreiner gewesen, und er hatte seiner Enkelin zum sechsten Geburtstag einen Kaufladen gebaut. Ein Kunstwerk aus dunkelgrün lackiertem Holz mit sage und schreibe 82 kleinen Schubladen, die mit weißen Schildchen aus Emaille beschriftet waren. Zucker, Mehl, Pfeffer … So etwas stand da drauf. Es gab eine kleine Theke, eine kleine Kasse und eine Reihe von Utensilien wie Körbe, Stoffdeckchen, Preisschilder. Geschlossen sah der Kaufladen aus wie ein kleinerer Schrank. Erst wenn man die Türen öffnete, ertönte ein kleines Glöckchen, und die Pracht offenbarte sich. Dieser Kaufladen wurde zur großen Leidenschaft der kleinen Carola. Sie spielte ununterbrochen damit, nervte die Erwachsenen mit neuen Einfällen, damit sie zum Einkaufen kamen, und sie hörte nicht auf, damit zu spielen, angeblich bis sie fünfzehn war. Zuletzt vielleicht nur noch, um dem Großvater die Freude zu machen, doch die Fotos in dem Dossier sprachen
Weitere Kostenlose Bücher