Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
hatte er durch. Er schickte Mails, er ließ sogar ein Telegramm in Maccagno zustellen. Ja, so etwas gab es noch. Der arme Postbote, ein ziemlich alter, nicht sehr dünner Mann, war dreimal den Berg hochgekeucht, wie man Treysa versichert hatte. Doch nie hatte der Briefträger jemanden angetroffen.
Keine Reaktion, keine Antwort, nichts. Das war nicht Gabriels Stil. Oder? Stefan Treysa dachte über zwei Varianten nach. Tretjak war etwas zugestoßen, und er konnte sich nicht melden. Aber was sollte das sein? Man hätte doch längst von irgendwelchen Behörden etwas gehört. Oder? Wenn er in einem Krankenhaus lag, wer würde da eigentlich benachrichtigt? Seine Tante? Quatsch. Sein Bruder? Treysa hatte kurz in Erwägung gezogen, die Polizei zu verständigen, eine Vermisstenmeldung aufzugeben, hatte den Gedanken dann aber wieder fallengelassen. Was sollte das bringen?
Die zweite Variante hielt er für wahrscheinlicher. Gabriel war abgetaucht, wollte in Ruhe gelassen werden. Er wollte ein paar Dinge klären, darüber hatten sie in den letzten Therapiestunden gesprochen. Er sollte sich der Frage stellen, wem er in seinem Leben wirklich vertraute. Dazu hatte Treysa ihn aufgefordert. Vielleicht hatte Gabriel eine Reise angetreten, endlich, um sich seinem Leben zu stellen?
Treysa ging mit Fritz an der Seite das Isarufer wieder zurück. Ihm fiel ein Satz von Gabriel ein, in einer der letzten Sitzungen: »Ich kann mit der Vergangenheit nicht umgehen, nicht so wie andere Leute. Dazu ist es zu spät, glaub mir das.«
»Warum ist es dafür zu spät?«, hatte Treysa gefragt.
»Das verstehst du nicht, das kannst du nicht verstehen. Das hat nichts mit Psychologie zu tun, gar nichts. Das hat mit meinem Beruf und mit meinem Leben zu tun. In meiner Vergangenheit steckt zu viel, was mir gefährlich werden kann. Ich darf nicht dahin zurück, auf keinen Fall. Ich darf nicht – und ich kann nicht.«
Gabriel hatte dann, wie er es so gern tat, davon gesprochen, was es hieß, der Regler zu sein, dessen Philosophie es war, das Leben hinter sich abzuschneiden. Das eigene Leben, auch, aber vor allem das seiner Kunden. Der Regler, der mächtige Regler, der sich mit der ganzen Welt anlegte und nur überlebte, wenn er seinen Prinzipien treu blieb.
Vermutlich war es dieser Satz gewesen, der Treysa etwas klargemacht hatte: »Ich kann nicht mit der Vergangenheit umgehen wie andere Leute.« Es musste etwas gegeben haben, da war sich Treysa sicher, in Gabriels Vergangenheit, etwas Schreckliches, was er eingeschlossen hatte, weggesperrt, aus seinem Bewusstsein verbannt. Er hätte seinem Therapeuten nicht einmal davon erzählen können, wenn er gewollt hätte – weil es ihm selbst nicht mehr bewusst war. Und es war der Kern aller Probleme: Der Regler war geschaffen worden, um der eigenen Vergangenheit für immer auszuweichen. Jaja, Gabriel, dachte Treysa, du wirst jetzt den Kopf schütteln über die banale Weisheit des Psychologen. Über den Psychologen, der nichts versteht von der großen, brutalen Welt da draußen.
Mag sein, Gabriel. Aber von der kleinen Welt da drinnen verstehe ich etwas, dachte Treysa und schaute seinen Fritz an, den Dackel, der nun schon gute fünf Minuten einem Grasbüschel anscheinend unglaublich großartige Gerüche entlockte.
Treysa hatte nach einer dieser Therapiesitzungen den Entschluss gefasst: Ich werde herausfinden, was da passiert ist, vermutlich damals in diesem Hotel »Zum blauen Mondschein« in Bozen, als die Mutter zugrunde ging. Es musste noch etwas geschehen sein. Wenn ich das weiß, Gabriel, hatte Treysa gedacht, dann schauen wir es uns zusammen an. Ich konfrontiere dich mit deiner Vergangenheit, und du wirst sehen, es geht, es wird dich nicht umbringen.
Deshalb hatte Stefan Treysa den Kontakt zu Tretjaks Tante gesucht. Und deshalb lag jetzt ein weiteres Zugticket auf seinem Schreibtisch, Morgen früh ging es los, nach Amsterdam, sechseinhalb Stunden Fahrt, zu Luca Tretjak, dem Bruder. War gar nicht leicht gewesen, seine Adresse herauszubekommen. Alle Versuche waren zunächst gescheitert, dieser Mann schien gar nicht zu existieren. Doch dann hatte die Tante noch einmal angerufen, Frau Ügdur, und ihm die Adresse durchgegeben. Man könne ihn nicht anrufen, man könne sich nicht anmelden, sagte Frau Ügdur. »Sie müssen einfach Ihr Glück versuchen.«
Stefan Treysa hatte zwölf Jahre als Psychotherapeut gearbeitet, die ersten Jahre in einer Klinik, dann hatte er sich mit einem Kollegen selbständig
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