Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
gemacht. Dass ihre Praxis wirtschaftlich erfolgreich lief, lag mehr am gewinnenden Wesen seines Kollegen als an seiner eigenen, sehr sorgfältigen und fundierten Arbeit. Eine kleine Erbschaft und die Hilfe Tretjaks ermöglichten ihm schließlich den Absprung. Er gründete eine eigene, höchst anspruchsvolle Zeitschrift: das »Psychologie Journal«. Er war Verleger, Chefredakteur und einziger Redakteur in einem, seine Autoren waren die interessantesten Wissenschaftler der Welt. Das Magazin erschien alle zwei Monate, und die stetig wachsende Zahl an Abonnenten aus der Fachwelt sorgte dafür, dass es inzwischen sogar schwarze Zahlen schrieb.
Nur sehr selten, höchstens ein- oder zweimal im Jahr, leistete er sich noch den Luxus, einen Patienten zu übernehmen. Meistens sorgte irgendein Zufall dafür. Wie bei Gabriel. Er hatte zusehen können, wie der Freund immer tiefer in die Krise geschlittert war. Und er hatte nicht länger zusehen wollen.
Irgendwann gegen elf Uhr bekam der Dackel Fritz sein zweites Frühstück. Ein Paar Wiener Würstchen. Er liebte es, »das Männerfrühstück«, wie Treysa sagte. Die Getreideflocken und die gesunden Körner waren die Sache seiner Frau. Treysa durfte nicht vergessen, der Tochter der Nachbarin Bescheid zu sagen, dass sie die nächsten Tage wieder die Betreuung des Dackels übernehmen musste, gegen eine stattliche Aufbesserung ihres Taschengeldes.
Stefan Treysa hatte überlegt, ob Hypnose bei Gabriel sinnvoll sein könnte. Doch als er ihm davon erzählt hatte, hatte sich herausgestellt, dass Tretjak so ziemlich alles über Hypnose wusste, was man wissen konnte. Und nicht nur theoretisch: Er hatte sich in verschiedenen Hypnosetechniken ausbilden lassen. Natürlich nicht, um an die eigene Seele heranzukommen, sondern an die Seelen der anderen.
Nein, Hypnose war also keine Möglichkeit. Es musste anders funktionieren, direkter. Amsterdam. Luca, der Bruder. Einmal hatte er versucht, mit Gabriel über ihn zu reden. Die Antwort war ein versteinertes Gesicht. »Kein Wort über ihn«, hatte Tretjak gesagt, »nächstes Thema.«
Stefan Treysa hoffte sehr auf Luca Tretjak. Vielleicht konnte er ihm erzählen, was damals in Bozen geschehen war.
11
Die Dienstreise
Es war ein kurzer Moment im Badezimmer. August Maler hatte sich rasiert, mit dem elektrischen Rasierer, natürlich, der Nassrasierer hätte bei seinen zitternden Händen ein Blutbad angerichtet. Er hatte das Kabel aus der Steckdose gezogen und den Apparat weggepackt. Er hatte sein Gesicht mit einer Lotion eingerieben, erfrischend hatte draufgestanden, und es hatte sich tatsächlich so angefühlt. Er war schon dabei gewesen, das Badezimmer zu verlassen, als er doch noch in den Spiegel schaute, was er seit langem vermieden hatte. Mein Gott. Alles was er sah: alt, fahl, fertig, kaputt. Wer war dieser Mann, der ihn da anblickte? Er? Maler hatte viel gelesen in letzter Zeit über die Konstruktion des Ichs, über das Spiel der Identitäten. Man war nicht nur das eine Ich, man war immer auch eine Summe von Möglichkeiten, und vor allem war das Ich das, was es sein wollte, was es beschloss zu sein. Die Theorien hatten ihm gefallen, hatten es ihm leichter gemacht, das eigene Fremdheitsgefühl auszuhalten. Er hatte begonnen zu akzeptieren, dass er kein Gefühl mehr für sich hatte.
Aber jetzt sah er sich im Spiegel. Schmal war er geworden, doch es sah nicht gut aus, im Gegenteil. Früher hatte er sich auch nicht angucken mögen, zu viele Kilos, zu fett. Jetzt waren die Kilos weg, jetzt sah er Falten, hängende Hautlappen. Und die Narbe, die dicke, rote, lange Narbe, vom Brustbein abwärts. Immer leuchtender wurde das Rot, von Jahr zu Jahr, anstatt zu verblassen, es wurde immer mehr zu einem Feuermal. Wenn der Professor ihn wieder aufschnitt, das Brustbein noch einmal brach, würde er die alte Narbe benutzen oder eine neue Stelle suchen? Maler nahm sich vor, den Professor das nächste Mal zu fragen.
Er hatte Fieber heute Morgen. Ein bisschen über 38 Grad, nicht schlimm, aber dennoch. Normalerweise hätte er Inge davon erzählen müssen, normalerweise wäre der Tag gelaufen gewesen, er hätte sich auf den Weg ins Klinikum Großhadern machen müssen, für einen sofortigen umfassenden Check. Jemand, der Fieber hatte, hatte vielleicht eine gefährliche Infektion, konnte nicht transplantiert werden, bis das Fieber weg war, musste von der Liste gestrichen werden. Bei einem, der auf der Warteliste für ein neues Herz stand, wurde alles zum
Weitere Kostenlose Bücher