Die Stunde des Tors
kam weder am nächsten noch am übernächsten Tag wieder auf, obwohl das Grasland seine Dosis Nachtregen erhielt.
Flor hatte die Zügel übernommen, es war früher Abend, und sie würden bald anhalten, um ihr Lager aufzuschlagen.
Im Osten stieg der Mond voll hinter grauen Wolken auf, eine tiefgehende orangefarbene Kugel, die den Horizont krönte. Er ließ die Regenwolken zu dünnen Schleiern werden und warf rötliches Licht über das dunkle Pflanzenmeer. Schneeflockengleiche Reflektionen tanzten in Elfenschritten über die Reste eines früheren Regens.
Von den vier geduldigen Echsen war das gleichmäßige schwere Swischswisch zu hören, mit dem sie sich durch das nasse Schwertgras schoben. Fröhliches Geplauder und gelegentliches Gelächter, das von Mudges schrillem Pfeifen durchdrungen wurde, kam aus dem geschlossenen Wagen. Kleine Geschöpfe erhoben sich vorsichtig, um die vorwärtspolternde hölzerne Bestie zu begutachten und sich dann wieder in Bodenlöcher oder ins Gras zurücksinken zu lassen.
Jon-Tom zog die vorderen Öltücher auseinander und setzte sich neben Flor auf den Kutschsitz. Sie hielt die Zügel so lässig in der rechten Hand, als sei sie für die Aufgabe geboren, und sah zu ihm herüber. Ihre Linke ruhte auf dem Schenkel, ihr schwarzes Haar war ein dunkler Schatten in dunkler Nacht. Ihre Augen blickten leuchtend und groß.
Er wich ihrem neugierigen Blick aus und sah auf seine Hände. Sie verschränkten und verkrampften sich in seinem Schoß, als suchten sie einen Platz, an dem sie sich verstecken konnten - kleine fünfbeinige Wesen, die er nicht unter Kontrolle bekam.
»Ich glaube, wir haben ein Problem.«
»Nur eins?« Sie grinste ihn an, schenkte den Zügeln keine besondere Beachtung; die Echsen würden ohne weitere Anweisung einfach ihrem gegenwärtigen Kurs folgen.
»Aber genau darum dreht sich ja das Leben, nicht? Eine Reihe von Problemen lösen? Und wenn sie so vielfältig und herausfordernd wie diese sind«, sie schnellte lange Fingernägel durch die Luft, eine kurze Geste, die beiläufig zwei Welten und eine Verlagerung der Dimension umfaßte, »nun, das erhöht nur den Reiz.«
»Solche Probleme meine ich nicht, Flor. Ich meine ein persönliches.«
Sie sah ihn besorgt an. »Kann ich irgendwie helfen?«
»Vielleicht.« Er sah sie an. »Ich glaube, ich liebe dich. Ich glaube, ich habe dich immer geliebt. Ich...«
»Das reicht«, sagte sie fest, aber freundlich, und hob Einhalt gebietend die Hand. »Erstens kannst du mich nicht immer geliebt haben, weil du mich nicht immer schon kennst. Metaphysik beiseite, Jon-Tom, ich glaube nicht, daß du mich lange genug kennst.
Zweitens glaube ich nicht, daß du mich wirklich liebst. Ich glaube, du liebst das Bild, das du von mir hast, es verdad amigo? Um es grausam auszudrücken, du liebst mein Aussehen, meinen Körper. Glaube nicht, daß ich dir das vorwerfe. Es ist nicht deine Schuld. Deine Wünsche und Träume sind das Produkt deiner Umgebung.«
Die Sache entwickelte sich nicht so, wie er gehofft hatte; er war verwirrt. »Sei nicht so sicher, daß du alles über mich weißt, Flor.«
»Das bin ich nicht.« Sie war durch seinen Ton nicht gekränkt.
»Ich meine, wie hast du mich ›gesehen‹, Jon-Tom? Kurzes Röckchen, enges Oberteil, immer das perfekte Lächeln, immer gestriegelt und geschniegelt, das lange Haar schwingend, die Troddeln hüpfend - so etwa war es doch, oder?«
»Sei nicht so herablassend.«
»Ich bin nicht herablassend, verdammt! Gebrauche deinen Kopf, hombre. Ich sehe vielleicht aus wie ein Pinup, aber ich denke nicht so. Du kannst nicht in mich verliebt sein, weil du mich nicht kennst.«
»'e, langsam, worüber, bei allen 'ollen, streitet ihr?« Mudge steckte das Gesicht heraus. »Das is' 'ne verdammt zu 'übsche Nacht für solches Geplapper.«
»Halt dich da raus, Mudge«, sagte Jon-Tom barsch. »Das geht dich nichts an.«
»Oo, na, regen wir uns nich' auf Kumpel. Ganz wie du willst.« Mit einem letzten Blick auf die beiden zog er sich gehorsam zurück.
»Ich kann nicht bestreiten, daß ich dich körperlich anziehend finde, Flor.«
»Natürlich tust du das. Andernfalls wärst du nicht normal.« Sie sah gedankenverloren über die endlose dunkle Ebene. »Das war seit meinem zwölften Lebensjahr bei jedem Mann so. Das habe ich alles schon mehrfach hinter mir.« Sie sah ihn wieder an.
»Der Punkt ist, daß du mich nicht kennst, die wirkliche Flores Quintera. Also kannst du sie auch nicht lieben. Ich bin
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