Die Stunde des Venezianers
Wallstraat verschwunden war, gab Contarini Aimée frei.
Sie sagte nichts, lediglich ihre hastigen Atemzüge verrieten ihm, dass sie um ihre Beherrschung kämpfte. Erst in seinem Haus ließ er sie frei, warf die Tür hinter sich zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Im Lichtkreis der Laterne, die Flur und Treppenhaus erleuchtete, sah er Aimée Cornelis ins Gesicht.
Sie steckte den Dolch in die Scheide an ihrem Gürtel und strich sich ein paar wirre Haarsträhnen aus der Stirn. Sie trug das Gewand einer Küchenmagd, aber sie hatte auf die Haube verzichtet. Nur von einem Band gehalten, verschwanden ihre Haare im Nacken unter dem Umhang.
Unter seinem Blick wagte sie sogar ein zögerndes Lächeln.
»Ich danke Euch für Euer Eingreifen. Sicher wärt Ihr in jedem Fall zur Hilfe gekommen, aber Ihr habt mich erkannt. Woran? Ich wollte natürlich, wie Ihr Euch denken könnt, unbedingt unerkannt bleiben.«
»Woher weiß ich, ob die Sonne scheint? Ich sehe sie.«
In den Tiefen ihrer grünen Augen glitzerte kurz Verwirrung, dann schauten sie ihn mit jener bedrängenden Ausschließlichkeit an, die ihm so gut in Erinnerung geblieben war.
»Warum seid Ihr nicht in der Burg beim Festmahl?«, fragte er sie.
Er verbarg mit Mühe den Ansturm der Gefühle, die ihn auf den Platz hinausgetrieben hatten. Nur eine einzige typische Geste hatte ihn an sie erinnert.
Wo steckte eigentlich Alain von Auxois? Warum ließ er es zu, dass sie sich in so gefährliche Abenteuer stürzte?
»Was sollte dieser Mummenschanz eigentlich, wenn ich fragen darf? Ihr müsst Euch nicht wundern, dass Euch die Färber für ein loses Frauenzimmer halten, wenn Ihr des Nachts, ohne Begleitung, in solchem Aufzug durch die Stadt lauft.«
Sie straffte sich.
»Ich war auf dem Weg zu Euch. Da Ihr es ablehnt, das Gespräch mit mir zu suchen, muss ich Euch aufsuchen, Messer Contarini.«
Also hatte sie ihn in Male erkannt. Er hatte nicht gewusst, ob er es hoffen oder fürchten sollte.
»Wozu? Um mich in Brügge willkommen zu heißen? Ich bleibe nicht lange genug in der Stadt.«
»Umso wichtiger ist es, dass ich Euch heute spreche.«
»Sprecht bitte besser mit Salomon.«
»Ihr weist mich ab?«
Wenn noch eine Spur von klarem Verstand in seinem Kopf war, dann musste er sie abweisen.
41. Kapitel
B RÜGGE , 6. J ULI 1372
Colards Augen tränten vor Überanstrengung. Die Kerzen waren fast heruntergebrannt. Tote Nachtfalter klebten in den Wachspfützen. Vom nahen Belfried und den umliegenden Kirchen tönte das Mitternachtsläuten.
Er rieb sich die Augen mit den Fingerknöcheln und lauschte. Das Haus hatte sich längst zur Ruhe begeben. Ein Segen. Damit waren auch Gleitjes Vorwürfe verstummt.
Sie hatte sich wahre Wunder vom Besuch der Herzogin versprochen und war bitter enttäuscht worden. Allein von Aimée und Joris geleitet, hatte Margarete das Lager im Eilschritt durchmessen und ihre Wünsche kundgetan, die der Schreiber sorgsam auf einem Wachstäfelchen notierte.
Hermelinfelle, Kerzenleuchter aus böhmischem Gold und Ledertapeten aus Córdoba hatten ihren Gefallen gefunden. Auch das Kästchen mit den Perlen aus dem Land der Tartaren, die teuren Brokate aus Venedig, versiegelte Balsamtöpfchen und zwei geschnitzte Vogelkäfige mit vergoldeten Streben waren im Austausch gegen einen Lederbeutel voll Gold- und Silbermünzen in ihren Besitz übergegangen.
Die Ehrendamen, die Gleitje während dieser Zeit mit allem Pomp im Hause bewirtet hatte, waren aufgebrochen, sobald die Herzogin wieder auftauchte, und hatten ihr weder ihre Mühe noch ihre Gastfreundschaft gedankt. Gleitjes Stimmung war danach so gereizt gewesen, dass Colard Zuflucht im Kontor genommen hatte. Seit seine Frau ihm ihre Schwangerschaft mitgeteilt hatte, schlief er ohnehin wieder in seiner alten Kammer.
Colard hielt die Handfläche schützend hinter die Kerzen, ehe er die Flammen ausblies. Dennoch wurde es nicht völlig dunkel im Kontor. Die Fenster standen auf, und das Licht des Mondes wurde von den Pflastersteinen im Hof reflektiert. Für den Ehrenbesuch war jeder einzelne von ihnen mit Lauge gescheuert worden.
Er wollte eben die Fensterflügel für die Nacht schließen, als ihm eine Bewegung im Schlagschatten des runden Eckturmes auffiel, ein Licht.
Aimée hatte dem Gesinde gegen Gleitjes Wunsch erlaubt, an den geselligen Veranstaltungen teilzunehmen, die überall stattfanden. Der jährliche Wettbewerb der Bogenschützengilden brachte Jung und Alt auf die Beine. Die Brügger liebten
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