Die Stunde des Venezianers
Ländereien.«
Aimée ließ sich nicht erschüttern. Sie schob die Erinnerung an die leeren Hallen von Courtenay beiseite, die niemand mehr bewohnte. Sogar der Kastellan, den Jean-Paul nach dem Abklingen der Pest eingesetzt hatte, um das Lehen zu verwalten, wohnte lieber im Dorf statt in den ausgeräucherten Gemäuern. Es war, als läge seit den Ereignissen im Sommer 1356 ein Fluch über der Burg ihres Vaters.
»Mit diesem Erbe hättest du statt meines Sohnes besser einen burgundischen Landjunker heiraten sollen«, zischte Sophia. »Hier bist du fehl am Platz.«
»Das sehe ich anders.«
Aimée hielt dem wütenden Blick stand. Sie war keine ungehorsame Magd, sie widersetzte sich einem ungerechten Diktat als Ebenbürtige, aber sie konnte in Sophias Gesicht lesen, dass es nie eine Einigung zwischen ihnen geben würde, und Sophias nächste Worte bestätigten dies.
»Geh nach Courtenay, wenn du herrschen willst. Hier bin ich die Herrin.«
Rubens Mutter schritt davon, und Aimée sah ihr fassungslos nach. Sie hatte sich getäuscht in der Annahme, unter diesem Dach ein Zuhause und eine Familie zu finden.
Was sollte sie tun?
Sie konnte hier nicht nützlich sein. Schon in Gent hatte sie gegen die Langeweile gekämpft. In Brügge war es jedoch weitaus schlimmer. Ruben verließ morgens das Haus, und meist sah sie ihn erst zum Abendessen wieder. Ihre Fragen, wie und womit er seine Tage verbrachte, beantwortete er mit belanglosen Scherzen. Was sie tat, schien ihm völlig gleichgültig zu sein.
Wie es aussah, würde es für sie auf ewige Tage nichts anderes zu tun geben, als Nadelarbeiten zu sticheln und aus dem Fenster zu sehen. Es war ihr nicht einmal gestattet, die Mägde zum Einkauf zu begleiten. Es gab keine Bücher, keine Schriften und keine Ablenkung durch Besuche.
Dem Brauch nach hätten ihr längst die Frauen der anderen Handelsherren ihre Aufwartung machen müssen. Was hielt sie davon ab? Sophia? Mit Ausnahme der Sonntagsmessen, die alle gemeinsam in der prächtigen Basilika des Heiligen Blutes besuchten, kam sie nie aus dem Haus. Seit ihrer Ankunft in Brügge lebte sie wie eine Gefangene.
Ihr Blick flog zur großen Doppeltür. Ein Flügel stand offen und ließ das Sonnenlicht ein. Es roch nach der Seifenlauge, mit der poliert worden war. Die Makellosigkeit erboste Aimée. Es gab nichts daran auszusetzen, wie Rubens Mutter das Haus führte. Es vertiefte nur das Gefühl ihrer eigenen Nutzlosigkeit.
In Courtenay, wo Sophia sie so gerne hingeschickt hätte, gab es sicher genügend zu tun. Von jähem Heimweh überwältigt sah Aimée die grünen Hügel von Andrieu vor sich und das ihr gegenüber immer freundliche Gesicht ihrer Großmutter. Bei ihr könnte sie Trost finden.
Das Aufheulen einer Magd riss sie aus ihrem kurzen Traum.
Es klang, als habe Sophia ihren Anweisungen mit dem Stock Nachdruck verschafft.
Aimée rief sich zur Ordnung und umklammerte die Hand mit dem Ring ihrer Großmutter. Weder ließ ihr Stolz zu, dass sie nach Andrieu floh, noch war es ihr wirklich möglich. Sie war verheiratet, und sie hatte dem Herzog ihr Wort gegeben, sein Auge und Ohr zu sein. Sie hatte Pflichten.
Sie trat aus der Tür, ohne zu wissen, wohin sie eigentlich wollte.
Bis auf ein paar Fuhrknechte, die vor dem Warenspeicher eine Holzkarre entluden, war der Hof leer. Für einen Wochenanfang tat sich wenig vor dem Haus. Sie sah sich suchend um und entdeckte einen bescheiden gekleideten älteren Mann mit Filzkappe, der aus dem Seitenflügel trat und ein Schreibbrett unter dem Arm trug. Colards rechte Hand. Der Schreiber. Hieß er nicht Joris? Sein respektvoller Gruß erforderte ihre Antwort.
Aimée hielt ihn mit einer Frage auf, ehe er seinen Weg fortsetzte. »Könnt Ihr mir sagen, wo ich meinen Mann finde?«
»Im Stofflager neben dem Torbogen, Frau Cornelis«, entgegnete der Schreiber höflich und verneigte sich. »Wenn Ihr mir jedoch einen Rat gestattet, wartet, bis er seine Unterredung mit seinem Vetter beendet hat.«
»Sie streiten?«
»Sie sind nicht immer einer Meinung, das habt Ihr sicher längst herausgefunden.«
Aimée blickte in das faltige Gesicht und entdeckte ausschließlich arglose Freundlichkeit. Dennoch wählte sie die nächsten Worte vorsichtig.
»Ich hatte bisher wenig Gelegenheit, etwas herauszufinden. Ich würde gerne mehr erfahren, sowohl über das Haus wie über Brügge.«
»Warum bittet Ihr nicht Euren Mann, Euch herumzuführen?«
»Weil ich denke, dass er keine Zeit hat.«
»Zeit ist das
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