Die Sturmreiterin - Hennen, B: Sturmreiterin
immer nicht fassen, was geschehen war. Sie hatte an diesem einen Tag alles verloren. Nazli war vermutlich von Kanonenkugeln zerrissen worden, die Pistolen, das letzte Geschenk ihres Vaters, steckten noch immer in den Sattelholstern, wenn sie inzwischen nicht irgendein Plünderer gestohlen hatte. Und der Säbel! Dreißig Jahre lang hatte ihr Vater ihn in Ehren geführt. Nun lag er irgendwo auf dem Schlachtfeld. Und ihre Ehre … Was hatte sie nur getan! Die Waffe gegen einen der ihren gerichtet. Nie würde sie diese Schande tilgen können! Sie hatte die höchsten Tugenden eines Kavalleristen verraten! Mut und Ritterlichkeit.
Vor der Brücke scherte sie aus der Kolonne der Flüchtlinge aus und starrte auf das dunkle Wasser. Was ihr Vater wohl von ihr denken würde, wenn er noch lebte? Den Namen der Familie hatte sie besudelt. Was war sie … Eine groteske Witzfigur! Ein Weibsbild in Soldatenkleidern, das sich anmaßte, wie ein Mann zu sein. Noch immer sah sie auf das dunkle Wasser. Nur drei Schritt … Auch ihr Vater hatte schon fliehen müssen, doch nie zuvor hatte ein Bretton alle seine Waffen auf dem Schlachtfelde gelassen, ohne auch nur mit dem Feind in Berührung gekommen zu sein.
Vorsichtig stieg sie die Böschung hinab. Sie würde dieser Groteske ein Ende machen. Morgen würde man den Unterlieutenant von Bretton als gefallen auf dem Felde vor Leuthen aus der Regimentsliste streichen.
Das Wasser war eisig. Es würde nicht lange dauern, bis seine Kälte sie tötete. Hinter ihr knackten Äste. Ein mächtiger Schatten löste sich aus dem Dunkel des Ufergestrüpps. Niemand würde sie jetzt mehr aufhalten! Sie machte einen Schritt nach vorn. Wie eine Hand aus Eis griff das Wasser nach ihren Waden.
Platschend trat etwas neben ihr in den Fluss. Feuchte Nüstern drückten sich in ihr Gesicht. Nazli! Sie lebte!
Schluchzend schlang sie ihre Arme um den Hals der Stute. »Nazli!«
1 6. KAPITEL
Auf dem Gang draußen waren Schritte zu hören. Voller Hoffnung erhob sich Janosch aus dem feuchten Stroh. Es war nicht mehr lange bis zum Christfest! Vielleicht würde man ihm aus christlicher Barmherzigkeit die Freiheit schenken, auch wenn er bei den protestantischen Preußen auf eine solch noble Geste kaum zu hoffen wagte.
Sein Bein schmerzte, und die Schusswunde, die ihm sein verfluchtes Weib beigebracht hatte, stach, als habe man ihm einen glühenden Dolch ins Fleisch getrieben. Die kalte und feuchte Kasematte würde ihn noch umbringen. Es war ein langer, gewölbter Gang mit meterdicken Mauern, der irgendwo in den Festungswerken von Dresden lag. Er war hier mit fast hundert gefangenen Unteroffizieren und Gemeinen untergebracht worden, die sich geweigert hatten, in preußische Dienste zu treten. Auch einige der anderen erhoben sich nun von ihren Strohlagern und blickten erwartungsvoll zu der schweren Tür.
Das Scharren eines eisernen Riegels war zu hören. Zwei Garnisonsoffiziere, begleitet von einem Artilleriehauptmann, traten herein.
»Wen ich beim Namen nenne, der mag vortreten!«, sagte der Hauptmann mit strenger Stimme. Er war von schmaler Gestalt, mit stechenden, tiefbraunen Augen. Eine rote Narbe lief über seine Stirn, und an seiner rechten Hand fehlte der Daumen. Janosch hatte das Gefühl, der Hauptmann werfe ihm einen bösen Blick zu. Warum nur? Etwas an dem Kerl kam ihm vertraut vor, so als sei er ihm schon einmal begegnet. Doch der Zöllner konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, vor seiner Gefangennahme jemals einem preußischen Artillerieoffizier begegnet zu sein.
Der Hauptmann hatte inzwischen begonnen die Namen vorzulesen. Die Liste war kurz. Nur ein paar Wachtmeister und Soldaten aus einem ungarischen Grenadierbattallion wurden aufgerufen. Wie all die anderen Male stand sein Name schon wieder nicht auf der Liste!
So konnte es nicht weitergehen. Der Kerker würde ihn noch umbringen! Janosch fasste sich ein Herz und trat vor. »Herr Hauptmann!«
Ungehalten wandte sich der Offizier ihm zu. »Was will Er? Sein Name stand nicht auf der Liste!«
»So kennen Sie denn meinen Namen!« Janosch spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. Offenbar war also zumindest über ihn gesprochen worden. Vielleicht lag bereits ein Ersuchen vor, auch ihn wieder in die Freiheit zu entlassen.
»Der Oberstzollmeister Janosch Plarenzi aus Orschowa, nicht wahr?«
»Ja, Eure Exzellenz!« Janosch verbeugte sich tief.
»Er sollte vor mir nicht katzbuckeln! Ich bin nicht von Stand. Seine Unterwürfigkeit macht
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