Die Sünde der Brüder
ersten Frau nicht mehr hatte weinen sehen.
»Diese… diese durchtriebene alte… oh, Gott. Diese verflixte Frau. Wie konnte sie nur? Und allein - all diese Jahre ganz allein!« Hal schlug sich beide Hände vor das Gesicht.
»Warum?« Grey spürte, wie der Atem in seiner Brust allmählich wieder in Bewegung kam. »Warum in Gottes Namen mag sie es dir nicht erzählt haben? Ich verstehe ja, dass sie mir angesichts meines Alters die Wahrheit vorenthalten wollte, aber - du?«
Hal bekam sich allmählich wieder in den Griff, obwohl sich seine Stimme immer noch überschlug, sie keuchend von einem Gefühl zum anderen umschwang - Bestürzung folgte auf Erleichterung, um sogleich dem Entsetzen zu weichen, bevor die Wut dem Schmerz auf dem Fuße folgte.
»Weil sie wusste, dass ich Jagd auf den Mistkerl machen würde. Und, verdammt, sie hat gedacht, er würde mich auch umbringen.« Hal ließ die Faust geräuschlos auf die Mauer niedersausen. »Gott verdammt !«
»Du glaubst, sie hat gewusst, wer es war.« Greys Worte hingen zwischen ihnen in der Luft.
»Sie weiß zumindest, wer es sein könnte«, sagte Hal schließlich. Er stand auf und ergriff seinen Hut. »Gehen wir.«
Den Rest des Weges legten die Brüder schweigend zurück.
24
Attacke
Als einem der beiden Regimentsmajore fiel Grey die Verantwortung für etwa vierhundert Soldaten zu. Befand sich die Armee auf dem Marsch, war es seine Pflicht, dafür zu sorgen, dass jeder mehr oder weniger pünktlich am rechten Ort auftauchte und für den jeweiligen Auftrag hinreichend ausgebildet und ausgerüstet war.
Als Hals stellvertretendem Oberstleutnant fiel es ihm außerdem zu, auf dem Schlachtfeld zu sein, wenn das Regiment in Kampfhandlungen verwickelt war, während der Schlacht für reibungslose Abläufe zu sorgen, die Truppenbewegungen von sechsundzwanzig Kompanien zu steuern und - so gut er konnte - die Strategien und Taktiken auszuführen, die seine Order ihm auftrug.
Während des gesamten Aprils waren die Truppen Herzog Ferdinands und seiner englischen Verbündeten zwar ständig in Bewegung gewesen - doch es war nicht zu Kampfhandlungen gekommen, da sich die französischen und österreichischen Truppen des Duc de Richelieu auf das Feigste ungeneigt zeigten, Halt zu machen und zu kämpfen.
Demzufolge hatte sich die Armee wochenlang im Rheintal auf und ab bewegt und Abstecher zur Seite gemacht, um die Franzosen allmählich zu ihrer eigenen Grenze zurückzudrängen, doch es war ihr nie gelungen, einen Zusammenstoß zu erzwingen.
Demzufolge bestand Greys Beschäftigung im Allgemeinen darin, täglich sechzehn Stunden mit preußischen Marketendern, hannoverschen Maultiertreibern und englischen Quartiermeistern zu diskutieren, endlose Besprechungen über sich
ergehen zu lassen, sämtliche neuen Lagerplätze, Quartiere und kulinarischen Arrangements zu begutachten und zu genehmigen, sich um Ruhr- und Pockenepidemien zu kümmern und sechsundzwanzig Kommandeuren Tagesbefehle bezüglich des Verhaltens, der Ausrüstung und der Aufstellung ihrer Männer zu diktieren - und sich ihre Entschuldigungen für die Nichtbefolgung besagter Befehle anzuhören.
Hin und wieder verschaffte sich Grey Erleichterung von dieser Eintönigkeit, indem er mit der einen oder anderen Kompanie auf Patrouille ritt. Der vordergründige - und offizielle - Zweck dieser Übung war, die Einsatzbereitschaft der Kompanien und die Kompetenz ihrer Offiziere zu überprüfen. Was ihn jedoch persönlich betraf, war der Hauptzweck dieser Exkursionen, ihn davor zu bewahren, entweder die Beherrschung oder den Verstand zu verlieren.
Natürlich musste er rigoros jeden Anschein vermeiden, jemanden zu bevorzugen, weshalb er sich angewöhnt hatte, die Kompanien auszuwählen, indem er einen Pfeil auf die Liste warf, die an seiner Zeltwand hing. Durch die Launen des Schicksals fiel daher das Los erst Ende April auf eine von Leutnant Wainwrights Kompanien.
Percy selbst sah er oft - abends speisten sie meistens gemeinsam, entweder in der Offiziersmesse oder unter vier Augen in Greys Zelt - und stellte ihm natürlich die üblichen Fragen nach seinen Kompanien, doch meistens unterhielten sie sich über persönliche Dinge. Außer beim Exerzieren hatte er noch nie gesehen, wie Percy seine Männer befehligte, und ritt daher am vierundzwanzigsten April mit einer Mischung aus Vorfreude und Anspannung aus.
Er ritt einen Wallach namens Grendel, dessen friedlicher Charakter seinen Namen Lügen strafte, und das Wetter legte
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