Die Sünde der Brüder
man hatte Grey versichert, dass er existierte und zweifelsohne jeden Augenblick auftauchen würde.
Der Türknauf - der aus weißem Porzellan bestand und so glatt war wie ein Ei, als wollte er den Verlust des Schlüssels
aufwiegen - drehte sich unterdessen entweder lose auf seinem Dorn, oder er klemmte fest. Beides verhinderte, dass sich die Tür von außen öffnen ließ. Tom hatte sich schon mehr als einmal gezwungen gesehen, durch das benachbarte Giebelfenster zu klettern und über die Vorderseite des Hauses zu rutschen, um in Greys Fenster einzusteigen und die Tür von innen zu öffnen.
Im Nachbardorf war heute ein unterhaltsamer Abend geplant; ein Konzert mit Tänzen aus der Gegend. Die meisten Männer und alle in der Gegend stationierten Offiziere würden dort sein, um das milde Wetter und den freien Abend zu genießen. Angesichts des zuvorkommenden Charakters seines Türknaufs, so dachte Grey, konnten er und Percy die Gelegenheit vielleicht ebenfalls nutzen. Sie konnten sich kurz bei der Festivität sehen lassen, und inmitten der Dunkelheit und des großzügig fließenden Weins würde niemand bemerken, wenn sie sich - diskreterweise separat - entfernten und sich zum Gasthaus zurückstahlen.
Die Sonne hatte zu sinken begonnen und tauchte die Mauern des alten Gasthauses und seinen Obstgarten in einen Dunsthauch aus Pfirsich und Aprikose, als er in den gepflasterten Hof trabte. Sein Pferd hatte es jetzt eilig, in den Stall zu seinem Heu zu kommen.
Grey hatte es nicht weniger eilig, und so freute es ihn nicht besonders, als ihm auf dem Hof ein gewisser Hauptmann Custis vom 9ten entgegentrat, der ihn beim Absteigen ansprach.
»Hallo, Grey!«
»Custis.« Er nickte dem Stallknecht zu, übergab ihm sein Pferd und wandte sich dem Hauptmann zu, um zu sehen, was er wollte. »Kann ich etwas für Euch tun?«
»Nicht direkt«, sagte Custis fröhlich. »Oberst Jeffreys sagt, Ihr habt versprochen, ihm Euren Vergil zu leihen, und da ich ohnehin hierher unterwegs war, habe ich ihm gesagt, ich würde ihm das Buch mitbringen. Aber während ich auf Euch gewartet habe, habe ich ein Gespräch mit dem Hauptmann hier angefangen -« Er wies kopfnickend auf einen kleinen, adretten
preußischen Infanteriehauptmann, der sich vor ihm verbeugte und die Hacken zusammenschlug. »Stellt Euch meine Überraschung vor, als ich gehört habe, dass heute Abend im Nachbarort ein Maifest stattfindet!«
»Was Ihr nicht sagt«, erwiderte Grey, der sich ein Lächeln nicht verkneifen konnte. Er richtete den Blick auf den leuchtenden Horizont, wo der Pfirsichton jetzt in Korallenrot und Lavendel-Lila überging.
»Und natürlich wird es, wenn Ihr das Buch habt, zu spät für Euch sein, um noch ins Lager zurückzureiten, daher müsst Ihr leider bleiben. Wie schade.«
»Nicht wahr? Werdet Ihr auch hingehen?«
»Oh, ja. Allerdings etwas später; ich muss noch meine Tagesbefehle schreiben.«
»Der Hauptmann und ich werden Euch einen Weinschlauch reservieren. Aber ich darf das Buch für den Oberst nicht vergessen.«
»Richtig, ich hole es Euch.«
Während ihm Custis und der Hauptmann die enge Treppe hinauffolgten, diskutierten sie lebhaft über die Tugenden eines örtlichen Weinguts, das am Fuß des Drachenfelses lag.
»Den frischen Wein, der nicht in Fässer abgefüllt wird, nennt man Federweißer. Er ist weiß und sehr leicht - aber bei Gott! Drei Gläser, und man liegt unter dem Tisch.«
» Ihr vielleicht«, sagte Grey lachend. »Ihr solltet nicht von Euch auf andere schließen.«
»Er ist kräftig«, sagte der Hauptmann. »Aber dazu muss man den Zwiebelkuchen essen, der ebenfalls eine Spezialität der Gegend ist. Auf diese Weise leidet man nicht -«
Grey packte den Porzellanknauf, der sich ausnahmsweise ordnungsgemäß drehte, und drückte die Tür auf. Und stand im ersten Moment wie gelähmt da, bevor er sie wieder zuknallte.
Doch er war nicht schnell genug. Nicht schnell genug, um zu verhindern, dass Custis und der Hauptmann es über seine Schulter hinweg sahen. Nicht annähernd schnell genug, um
das Bild auszulöschen, das seine Augen traf und sich durch diese hindurch seinen Weg in sein Gehirn brannte: den Anblick Percys, der splitternackt mit dem Gesicht nach unten auf seinem Bett lag und von einem blonden deutschen Offizier, der ebenfalls nackt war und dessen Muskeln sich vor Anstrengung zusammenballten, wie ein gebuttertes Brötchen gespalten wurde.
Irgendjemand hatte einen schockierten Ausruf ausgestoßen; er konnte nicht sagen, ob
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