Die Sünde der Brüder
»Du hast das angerichtet, diesen verdammten Schlamassel verursacht - warum hast du mir nichts gesagt? Ich hätte doch dafür sorgen können, dass dieser Michael dir nicht gefährlich wurde. Und wie konntest du nur so schwach sein und so dumm, auf eine so klägliche Drohung hereinzufallen? Es sei denn, du hättest es gewollt und nur auf eine Ausrede gewartet - nein, sag nichts. Kein verdammtes Wort!« Er schlug sich heftig mit der Faust auf das Knie.
»Du hast das angerichtet«, fuhr er mit bebender Stimme fort, »du hast dich nicht nur selbst zugrunde gerichtet, sondern uns alle mit hineingezogen -«
»Alle. Dich und deinen verflixten Bruder und eure gottverdammte Familienehre , meinst du -«
»Ja, unsere gottverdammte Familienehre! Und die Ehre des Regiments - dem du dich durch einen Eid verpflichtet hast, wenn ich dich daran erinnern darf. Wie kannst du es wagen, das Wort ›Ehre‹ in den Mund zu nehmen? Und doch wagst du es - und maßt dir darüber hinaus an, von mir zu verlangen, dass ich nicht nur ein Wunder vollbringe, um dir das Leben zu retten, sondern dass ich dich vor sämtlichen Konsequenzen deiner Torheit bewahre?«
Die Pistole lag vor ihm auf der Bank, fertig geladen. Sie musste nur noch gespannt werden. Eine Sekunde lang dachte er, wie einfach es wäre, sie zu ergreifen, zu spannen und Percy zwischen die Augen zu schießen. Niemand würde eine Frage stellen.
»Das habe ich nicht gesagt.«
Percys Stimme war erstickt. Er konnte Percy nicht ins Gesicht blicken, sah aber, wie sich seine langen Hände zu Fäusten ballten, sich lösten, sich wieder ballten. Zwischen ihnen herrschte Schweigen; jene Art von Schweigen, in dem die unausgesprochenen Worte widerhallen.
Irgendwo im Gebäude erklangen Geräusche. Stimmen, Gelächter. Wie war es nur möglich, dass irgendwo das normale Leben weiterging? Er hörte, wie Percy tief Luft holte und ihm der Atem stockte.
»Du hast gesagt, du könntest mir zwar keine Liebe geben - aber Güte und Ehre«, flüsterte Percy. Grey blickte auf und sah, dass die hektische Röte verblichen war. Percys gesunde Hautfarbe war leichenblass geworden.
»Ehre kann es für mich nicht mehr geben.« Seine Lippen bebten; einen Moment lang presste er sie fest aufeinander. »Wenn - wenn es noch eine Spur von Güte zwischen uns gibt, John - so flehe ich dich an. Rette mich.«
Er konnte nicht. Konnte es nicht ertragen, daran zu denken - nicht an Percys Wärme in seinem Bett, nicht an Percys Elend in der Zelle … ganz gewiss nicht an Percy und Weber in dem Speicherzimmerchen - konnte nicht über die Situation nachdenken, konnte sich nicht entscheiden, was er tun sollte. Demzufolge durchlebte er jeden Tag wie ein Automat, bewegte sich, sprach und lächelte sogar, je nachdem, was gerade nötig war, war sich aber währenddessen stets dieser inneren Uhr bewusst - und seiner Unfähigkeit, die Grenzen zu überschreiten, die ihm gesetzt waren.
Abgesehen von einer knappen Nachfrage, ob Percy anständig untergebracht war und man ihn ordentlich behandelte, hatte sich Hal nicht weiter nach dem Ergebnis seines Besuchs erkundigt. Ein Blick auf Grey hatte ihm nach dessen Rückkehr verraten, dass die Mission gescheitert war. Die Pistole befand sich nach wie vor in Greys Rucksack.
Der Brief kam eine Woche später. Er hatte weder Absender noch Adressaten - ein deutscher Gefreiter hatte ihn überbracht -, doch Grey wusste, woher er kam.
Eigentlich sollte er ihn ins Feuer werfen. Er verzog das Gesicht, während er mit dem Daumen in den Umschlag fuhr und das Siegel aufbrach. Die Anrede fehlte ebenfalls. Wollte Percy Vorsicht walten lassen, fragte er sich, um zu verhindern, dass
Grey in Verdacht geriet, falls der Brief abgefangen wurde? Oder wusste Percy einfach nicht mehr, wie er ihn anreden sollte? Die Frage verflüchtigte sich, sobald er die Einleitung las.
» Ich will es Dir überlassen, Dir vorzustellen, was es mich kostet, diesen Brief zu schreiben, denn letztlich entscheidest Du, wie hoch der Preis ist. Seit Tagen bin ich jetzt in großer Unruhe, weil ich zuerst mit mir gerungen habe, ob ich ihn schreiben soll. Und nun, da ich ihn geschrieben habe, ob ich ihn abschicken soll. Am Ende meiner Überlegungen stehe ich jedoch wieder da, wo ich angefangen habe: zu reden könnte mich das Leben kosten; nicht zu reden Dich das Deine. Wenn Du diese Worte liest, wirst Du wissen, wie ich mich entschieden habe. «
Grey rieb sich mit der Hand über das Gesicht, schüttelte heftig den Kopf, um ihn
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