Die Sünde der Brüder
spekuliert, dass sie vorhatten, nach Frankreich zu emigrieren - und mit dem gestohlenen Geld dafür sorgen wollten, dass man sie mit offenen Armen empfing -, wo die Unsitte anscheinend auf offener Straße wächst und gedeiht.«
»Hat man die Dokumente und das Geld wiedergefunden?«
Hal lehnte sich zurück.
»Nein. Keiner der Verschwörer hatte bei seiner Festnahme irgendwelches belastendes Material dabei. Auch bei Ffoulkes hat man nach seinem Selbstmord nichts gefunden - also geht man davon aus, dass der König von Frankreich es inzwischen
hat.« Hal verzog das Gesicht, als wäre ihm sein Frühstück nicht bekommen. »Und wo wir gerade von Frankreich sprechen …«
Grey blickte alarmiert auf, denn er hörte einen neuen Unterton in der Stimme seines Bruders.
»Ja?«
»Wir gehen nicht dorthin.«
»Was?«
»Die Order für das Regiment hat sich geändert. Lies das.« Hal zog einen Brief aus dem Durcheinander auf seinem Schreibtisch und warf ihn Grey hin. Er stammte vom Kriegsministerium und befahl dem 1sten/46sten in ein paar knappen Zeilen, sich in Preußen mit den Truppen Herzog Ferdinands von Braunschweig zusammenzuschließen.
»Keine Erklärung?« Grey sah seinen Bruder mit hochgezogenen Augenbrauen an, und dieser erwiderte seinen Blick mit finsterer Miene.
»Nein. Nicht, dass ich eine brauche. Das hat der verflixte Twelvetrees eingefädelt.«
Twelvetrees . Bei diesem Namen meldete sich eine Warnglocke, und im nächsten Moment wusste Grey, warum. »Nathaniel Twelvetrees?«, riet er. »Der Herr, mit dem du -«
»Nathaniel Twelvetrees ist tot, genau wie die Angelegenheit, auf die du hier anspielst.« Hals Stimme war ausdruckslos, doch sein Blick warnte Grey ausdrücklich davor, ein weiteres Wort zu sagen. »Das hier ist sein älterer Bruder. Oberst der Königlichen Artillerie.«
»Verstehe.«
So war es. Zwar war es Hal gelungen, durch seine militärischen Bemühungen zumindest einen Teil der Familienehre wiederherzustellen, doch dies war ihm nur mit Hilfe einiger fähiger Männer möglich gewesen, Männer wie Harry Quarry, die mit Leib und Seele Soldat waren und die er von der Artillerie fortgelockt hatte, indem er ihnen eine Beförderung und Autorität versprach. Andere Regimenter - wie die Königliche Artillerie - brüsteten sich mit privilegierten Offizieren aus den
besten Familien, wenn auch ohne nennenswerte Militärerfahrung. Solche Männer wollten nicht mit Lord Meltons Familienschande - und seinem Regiment - in Verbindung gebracht werden. Demzufolge konnte Hal nicht auf die Verbindungen und Vergünstigungen zurückgreifen, die anderen Regimentern zur Bevorzugung verhalfen.
Anscheinend dachte Oberst Twelvetrees, der Frankreichfeldzug böte die vielversprechenderen Möglichkeiten, sich im Kampf hervorzutun, und er wünschte, dem 46sten diese Möglichkeiten vorzuenthalten. Nach allem, was Grey über den Krieg in Preußen wusste, würde er sich wahrscheinlich ewig in die Länge ziehen, und die Truppen des Herzogs von Braunschweig, denen sie sich als Verbündete anschließen sollten, waren zahlenmäßig in der Unterzahl.
Außerdem bildeten die Engländer nur einen kleinen Teil der Armee an der preußischen Front und würden daher weniger Einfluss auf die Planung des Feldzugs haben.
»Nun ja«, sagte Grey schließlich. »Aber das Bier ist besser.«
Endlich kapitulierte Hals schlechte Laune, und er lachte, wenn auch widerstrebend.
»Ja, das ist zumindest etwas. Und du sprichst wenigstens Deutsch. Ich werde dich an meiner Seite brauchen, damit uns nichts entgeht.«
»Percival Wainwright spricht ebenfalls Deutsch«, sagte Grey, und sein Herz hüpfte plötzlich, als er an Percy dachte. Er fasste sich an die Westentasche, wo die dunkle Haarlocke verborgen lag.
»Wirklich?« Das interessierte Hal. »Gut. Wirst du Zeit haben, um ihn einzuweisen? Er hat heute Morgen seine Kommissionspapiere unterschrieben. Ich kann ihn an Wilmot oder Brabham-Griggs verweisen, wenn dir das lieber ist, aber da du so gut mit ihm zurechtzukommen schienst -«
»Nein, das kann ich tun«, versicherte ihm Grey und erhob sich. »Weißt du, wo ich ihn heute finden könnte? Ist er in der Kaserne?«
»Nein. Aber er ist bei Mutter zur Anprobe seines Anzugs für die Hochzeit. Ich bin selbst nur mit knapper Not entwischt. Oh, apropos: Olivia sagt, falls du hier auftauchst, soll ich dich sofort zum Maßnehmen nach Hause schicken.«
»Gut.« Das passte ihm hervorragend, auch wenn er in Bezug auf Olivias Geschmack seine Vorbehalte
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