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Die Suende der Engel

Die Suende der Engel

Titel: Die Suende der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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behütet wie ein Goldschatz und mit nichts jemals in Berührung gekommen, was das Leben an Ernüchterndem oder sogar Bösem bereithielt. Sie vertraute ihm so bedingungslos, wie sie allem und jedem vertraute. Als es ihm endlich gelungen war, ihren Vater so weit auszutricksen, daß er wirklich mit ihr allein sein konnte, hatte er mit ihr geschlafen, und es war ihm vorgekommen, als begehe er ein Sakrileg, als vergreife er sich an etwas, das nicht für ihn, für niemanden bestimmt war. Aber zugleich hatten ihn ihre Hingabe, ihre Zärtlichkeit, ihre schließlich einsetzende völlige Fixierung auf ihn in der Sicherheit gewiegt, er werde dieses Mädchen, ganz gleich was geschah, nie verlieren. Auch als er merkte, wie sehr sie unter seinen zahlreichen Affären mit attraktiven Kommilitoninnen litt, hatte er noch nicht gefürchtet, sie könnte daraus die Konsequenz ziehen und ihn verlassen. Nicht mit ihren gerade sechzehn, dann siebzehn Jahren. Als sie dann mit knapp achtzehn plötzlich nach Deutschland verschwand, war er wie vor den Kopf geschlagen. Und geradezu fassungslos hatte er reagiert, als er ihr über ein Jahr später nachgereist war und sie als verheiratete Frau antraf, mit einem Goldring am Finger und Zwillingen in einem überdimensionalen Siebenmonatsbauch. Eine neue Entschlossenheit war an ihr spürbar gewesen, und ihre Naivität hatte sich in nichts aufgelöst, einer vorsichtigen, etwas mißtrauischen Zurückhaltung Platz gemacht. Aber obwohl ihr das Leben den ersten harten Schlag versetzt hatte, hatte sie sich ihre Natürlichkeit, ihre Wärme, ihre herzliche Zuneigung zu den Menschen bewahrt. Der feine Unterschied war: Sie glaubte noch an das Gute, aber sie war nicht mehr gutgläubig. Um genau diese hauchfeine Nuance hatte sich ihr Wesen verändert und sie noch reizvoller werden lassen.
    Aber heute... Er drehte das Glas in seinen Händen, betrachtete nachdenklich die bernsteingelbe Flüssigkeit und die fast zerschmolzenen Eiswürfel. Heute überschattete immer wieder ein gequälter Ausdruck ihr Gesicht. Er hatte soviel mit Menschen in Ausnahmesituationen zu tun und war so vertraut mit den schlimmsten nur denkbaren Abgründen der sogenannten zivilisierten Gesellschaft, daß er das, was er bei Janet sah, jenseits der natürlichen Frustrationen einer unbefriedigenden Ehe einordnen mußte. Ganz gleich, wie deprimierend und perspektivenlos ihre Jahre mit Phillip verlaufen sein mochten - es hätte nicht ausgereicht, diesen besonderen Schmerz in ihre Augen zu legen. Irgendwo mußte es einen tiefen und schrecklichen Bruch in ihrem Leben gegeben haben. Allerdings hatte er schon gemerkt, daß es sinnlos war, in sie dringen zu wollen. Sie würde nichts preisgeben, ehe sie sich nicht selbst aus freien Stücken dazu entschlossen hatte.
    Er hörte ihren Schlüssel an der Wohnungstür und ging ihr entgegen, nahm ihr die Einkaufstasche ab und küßte sie auf die Wange.
    »Ich habe mich schon ganz einsam gefühlt«, sagte er, »ich bin es überhaupt nicht mehr gewöhnt, in eine leere Wohnung zu kommen.«
    Janet lachte. »Mir fiel plötzlich ein, daß wir überhaupt kein Abendessen haben. Also bin ich schnell einkaufen gegangen.«
    Andrew trug die Tüte in die Küche und spähte hinein. »Sind das Sachen, die man einfrieren kann?«
    Janet kam ihm nach. »Kann man, glaube ich. Willst du mich irgendwohin zum Essen einladen?«
    »Ich will, daß du eine Tasche packst mit Sachen, die du für eine Nacht und einen Tag brauchst. Und daß du dich dann in mein Auto setzt und alles Weitere mir überläßt.«
    Sie war überrascht. »Aber...«
    »Ich habe mich für morgen beurlauben lassen. Und ich würde gerne wegfahren. Es ist...« Er zögerte, dann fuhr er mit leiser Stimme fort: »Übermorgen sprechen sie Fred Corvey frei. Ich glaube, ich muß mich seelisch ein bißchen
    aufbauen.«
     
     
    Sie fuhren eine Stunde später los, hinein in einen hellen, warmen Abend. Der Londoner Berufsverkehr war bereits verebbt, sie kamen zügig vorwärts. Anhand der Richtungsschilder ahnte Janet natürlich bald, wohin es ging.
    »East Anglia«, sagte sie, »du willst nach Cambridge?«
    »Ich war seit Ewigkeiten nicht mehr dort. Hast du auch Lust?«
    »Aber keine Verwandtenbesuche!«
    Andrew schüttelte den Kopf. »Wenn wir plötzlich einen Tag für uns haben, werde ich ihn bestimmt nicht mit einer Teetasse in der Hand auf den verstaubten Sofas irgendwelcher Tanten von dir verbringen. Nein, ich dachte, wir suchen einfach ein paar Stätten unserer Jugend

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