Die Sünde des Abbé Mouret
seiner Jugend
hatte den Abbé Mouret in leichtes Fieber versetzt. Es war ihm nicht
mehr kühl. Er ließ die Feuerzange fallen, ging auf das Bett zu, wie
wenn er sich niederlegen wollte, dann ging er zurück ans Fenster,
lehnte die Stirn gegen die Scheiben und sah blicklos hinaus in die
Nacht. War er denn krank, daß ihm solche Schwere in den
Gliedern lag, das Blut ihm siedend durch
die Adern schoß. In seiner Seminarzeit war es zweimal vorgekommen,
daß ähnliches Übelbefinden ihn ergriff, eine Art körperlicher
Gejagtheit, die ihn sehr unglücklich machte; einmal hatte er sich
sogar zu Bett legen müssen in heftigen Delirien. Eine junge
Besessene fiel ihm ein; Bruder Archangias gab an, er habe sie mit
einem einfachen Kreuzzeichen geheilt, als sie eines Tages in Starre
vor ihm verfiel. Das brachte ihm die geistigen Beschwörungsmittel
ins Gedächtnis, die einer seiner Lehrer ihm früher anempfohlen
hatte. Gebet, Generalbeichte, häufiges Kommunizieren, die Wahl
eines weisen, geistigen Führers, der eine große Macht hätte über
den Geist seines Beichtkindes. Dann, ohne Übergang mit einer
Unvermitteltheit, die ihn erschreckte, trat aus den Tiefen seiner
Erinnerung das pausbäckige Antlitz eines seiner früheren Freunde,
eines Bauernjungen, der mit acht Jahren schon Chorknabe wurde und
dessen Unterhalt im Seminar eine Gönnerin bezahlte. Er war immer
vergnügt, genoß im voraus in aller Einfalt die kleinen Vorteile des
Berufes: die zwölfhundert Franken Gehalt, den gartenumhegten
Pfarrhof, die Geschenke, Einladungen, kleinen Nebeneinnahmen bei
Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen. Ach, er war wohl glücklich in
seiner Pfarre. Das trübe Bedauern, das ihn bei dieser Erinnerung
beschlich, setzte den Priester in äußerstes Erstaunen. War er denn
nicht auch glücklich? Bis zu diesem Tag hatte er nichts vermißt,
nichts ersehnt, nichts beneidet. Und selbst in dieser Stunde
befragte er sich und fand in sich keinerlei Anlaß zu Bitterkeit. Er
glaubte genau so zu sein wie in der Frühzeit seines Diakonats, als
die Pflichten des Tages, zur bestimmten Zeit Brevier zu lesen
und anhaltende Gebete seine Tage füllten.
Seit jener Zeit verstrichen Wochen, Monate, Jahre, ohne daß er Muße
zu schlechten Gedanken gefunden hätte. Zweifel quälten ihn nicht;
er schloß sich ab vor Geheimnissen, die er nicht verstehen konnte,
brachte mit Leichtigkeit seinen Verstand, den er verachtete, zum
Opfer. Beim Austritt aus dem Seminar hatte es ihn mit Freude
erfüllt, sich als Fremder unter den Menschen zu fühlen, einen
anderen Gang zu haben als sie, anders den Kopf zu tragen, Gesten,
Worte, Gefühle eines Ausnahmewesens zu besitzen. Er fühlte sich
verweiblicht, Engeln verwandt, erlöst von seinem Geschlecht, den
männlichen Dünsten. Fast stolz machte es ihn, der Art nicht mehr
anzugehören, Gott auferzogen zu sein, durch strengste Erziehung von
aller menschlichen Untat sorgfältig frei gehalten worden zu sein.
Noch jetzt war ihm, als sei er jahrelang in geheiligten Spezereien
aufbewahrt worden, die seine Körperlichkeit mit beginnender
Verklärung getränkt hätten. Gewisse Organe waren ihm geschwunden,
nach und nach aufgelöst: sein Gehirn, seine Glieder entledigten
sich des Stofflichen, erfüllten sich mit Seele, mit einer feinen
Luft, die ihn in eine schwindelnde Berauschtheit versetzte, als ob
die Erde plötzlich unter ihm wiche. Furchtsamkeit, Einfalt,
Unwissenheit eines Nönnchens waren ihm eigen. Manchmal äußerte er
lächelnd, seine Kindheit erlebe er weiter, er bilde sich ein, ganz
klein geblieben zu sein, die gleichen Gefühle, die gleichen
Einfälle, die gleichen Ansichten sich bewahrt zu haben; sechsjährig
kannte er Gott ebenso wie im Alter von fünfundzwanzig Jahren, in
seinen Gebeten fand er die gleichen Stimmbiegungen; es machte ihm
die gleiche Freude, in aller Richtigkeit die Hände zu falten. Die
Welt schien ihm die gleiche Welt, die er
sah, wenn er an der Hand seiner Mutter spazierte. Er war als
Priester erzogen, als Priester aufgewachsen. Wenn er in Gegenwart
der Teuse Beweise gab von grober Lebensunkenntnis, sah sie ihm
verblüfft in die Augen und sagte mit einem eigenen Lächeln, »daß er
in Wahrheit der Bruder sei von Fräulein Desiderata«. Nur einer
beschämenden Erschütterung konnte er sich in seinem Leben erinnern.
In den sechs letzten Seminarwochen war es gewesen, zwischen
Diakonar und Priesterschaft. Man hatte ihm das Werk des Abbé
Cruisson, Prior des großen Seminars in Valenciennes, zu lesen
gegeben:
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