Die Sünde des Abbé Mouret
wie ein Spielzeug hin. Dann kam er und holte ihn
sich und spielte stundenlang in einem Winkel ruhig mit dem Kamm;
leise fuhr er sich damit über die Hände.
Eines Morgens fand Albine Sergius auf den Füßen. Es war ihm
schon gelungen, einen Laden aufzustoßen. Er machte Gehversuche,
ohne sich an den Möbeln festzuhalten. »Seht mir einer den
Mordskerl,« sagte sie lustig. »Morgen wird er aus dem Fenster
springen, wenn man es dazu kommen läßt … So sind wir also
jetzt wieder ganz gesund?«
Sergius antwortete mit einem kindischen Lächeln, seine Glieder
hatten jugendliche Gesundheit zurückgewonnen, ohne daß Gefühle und
Bewußtsein in ihm erwachsen wären. Nachmittagelang saß er vor dem
Paradeis wie ein schmollendes Kind, das alles weiß sieht und ohne
zu verstehen, Geräusche in sich aufnimmt. Sein kindisches
Unvermögen blieb ihm, sein Tastgefühl war noch so unentwickelt, daß
er den Kleiderstoff Albinens nicht unterscheiden konnte vom Überzug des alten Sessels. Immer wieder
gab es ein Verwundern mit weit offnen, verständnislos großen Augen,
ein Zaudern vor jeder unsicheren Bewegung, ein Lebensbeginn war es,
ein unbewußtes Sein außerhalb allen Erfassens der Umgebung. Der
Mensch war noch nicht geboren.
»Gut, gut,« murmelte Albine, »spiel' nur den Dummen, wir werden
schon sehen.«
Sie nahm ihren Kamm aus dem Haar und hielt ihn hin.
»Willst du meinen Kamm?« sagte sie.
Als sie ihn dann rückwärts gehend aus dem Zimmer gelockt hatte,
umschlang sie ihn und stützte ihn bei jedem Schritt auf den Stufen.
Sie unterhielt ihn durch allerhand Späßchen, wobei sie ihren Kamm
wieder einsteckte, kitzelte ihn am Hals mit Haarspitzen, um zu
verhindern, daß er sich seines Heruntergehens bewußt würde. Unten
aber, ehe sie die Türe öffnete, fürchtete er sich im finsteren
Treppenflur.
»Mach' die Augen auf!« rief sie. Weit öffnete sie die Türe. Es
wurde hell; ein dunkler Schleier riß vor morgendlicher
Tagesfröhlichkeit. Der Park breitete sich in durchsichtig klarer
Grüne, tat seine Tiefen quellenfrisch auf. Entzückt hielt sich
Sergius auf der Schwelle im zögernden Wunsch, den Fuß in diesem
Lichtmeer zu netzen.
»Es sieht fast aus, als hättest du Angst, dir die Füße naß zu
machen,« sagte Albine. »Nur zu, du bist auf festem Boden.« Er
machte einen vorsichtigen Schritt und wunderte sich über die sanfte
Festigkeit des Sandes. Dies erstmalige In-Berührung-Kommen mit der
Erde gab ihm einen Stoß, durchbäumte ihn mit Leben, für Augenblicke
richtete er sich auf, wuchs in die Höhe, atmete tief.
»Nur Mut,« wiederholte Albine. »Wie du
weißt, versprachst du mir fünf Schritte zu machen. Wir gehen bis zu
dem Maulbeerbaum unter dem Fenster … Dort kannst du dich
ausruhen.«
Eine Viertelstunde brauchte er zu den fünf Schritten. Bei jedem
Schritt blieb er stehen, wie wenn er ihn am Boden haltende Wurzeln
hätte ausreißen müssen. Während ihn das junge Mädchen vorwärts
schob, sagte sie:
»Du siehst aus wie ein wandernder Baum.«
Mit dem Rücken lehnte sie ihn an den Maulbeerbaum, in den
astübertropfenden Sonnenregen. Mit hängenden Armen wandte Sergius
langsam den Kopf dem Park zu. Kindlich war er anzusehen, milchiger
Jugendschimmer lag auf blassem, lichtgebadetem Grün. Kindhaft
standen die Bäume, kindhaft blühte die Blumenhaut, die Wasser
strahlten in Einfaltsbläue groß aufgeschlagen schöner Augen, unter
jedem Blatt regte sich holdseliges Erwachen. Sergius' Blick
verweilte bei einer gelbdurchglänzten Lichtung, die in breiter
Allee sich vor ihm eröffnete, dicht umblättert; ganz am Ende,
goldgetränktes Feld im Osten, schien die Lichtwiese zu sein, zu der
die Sonne niederstieg; in Erwartung stand er und vermeinte, der
Morgen müsse durch die Allee bis zu ihm rinnen. Er fühlte sein
Kommen im lauen Wehen, schwach zuerst, kaum spürbar auf der Haut,
dann nach und nach anschwellend und so kräftig, daß es ihn ganz
durchbebte. Immer deutlicher schmeckte er sein Kommen in der
gesunden Bitternis frischen Luftzuges, im Hauch angenehm
aromatischer Süße fruchtherber Baummilch. Er sog sein Kommen ein
mit allen wegentlang gesammelten Düften, dem Erdgeruch, dem Duft
schattiger Wälder, erwärmter Pflanzen, dem Geruch lebenden Getiers, einen ganzen Strauß von Düften,
deren Heftigkeit Schwindel erregte. Er hörte sein Kommen im leisen
Flug des rasenüberstreifenden Vogels, allem Berührten verlieh er
Stimme und ließ in seinem Ohr die Musik alles Belebten und
Unbelebten aufklingen.
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