Die Sünde in mir
Papa bringt die Rübe aus dem Garten mit. Mama schneidet oben einen Deckel ab und macht eine Kuhle in den größeren Teil der Rübe. Dort kommen die Kandis rein und dann kommt der Deckel wieder drauf. Nach ein paar Stunden hat sich ein dunkler, klebriger Saft gebildet, der ganz gut schmeckt. Jedenfalls besser als der Zwiebelsaft, den sie mir auch mal gemacht hat. Dann muss man natürlich neue Kandis in die Kuhle der Rübe legen, damit immer wieder frischer Saft entsteht.
Wenn einer von uns hinfällt und sich etwas aufschlägt, wäscht Mama die Wunde mit einer Wurzelbürste aus. Meist sind da nämlich so kleine Steine drin, die liegen hier überall auf den Wegen. Das mit der Wurzelbürste ist am Schlimmsten! Danach kommt dann Jod auf die Wunde und das muss an der Luft trocknen. Das Jod steht in einer braunen Glasflasche in der Küche neben der Spüle, denn es ist oft in Gebrauch. Wir fallen dauernd hin, vor allem mit den Rollschuhen. Mit dem Jod drauf sehen wir schnell aus wie die Indianer. Einmal bin ich vom Schlitten gefallen. Ich habe mir alles Mögliche aufgehauen, angefangen von den Knien bis über die Hände und Ellenbogen. Da war ich wirklich mal ganz rot! Es sah ziemlich lustig aus, aber ich konnte nicht darüber lachen, weil mir alles so weh tat.
Gegen Prellungen macht Mama Quarkwickel. Bei Halsweh gibt es warme Kartoffelwickel und bei Ohrenschmerzen wird ein Zwiebelsäckchen aufgelegt. Wenn jemand fiebert, bekommt er selbst gemachten Holunderbeersaft. Der schmeckt ekelig, vor allem wenn er heiß ist. Bei Bauchweh gibt es ein Kirschkernsäckchen und Kamillentee und Zwieback. Bei Durchfall sollen wir geriebenen Apfel mit geriebener Banane essen. Das ist lecker! Auch die Salzstangen mag ich gerne. Die gibt es sonst nur auf Geburtstagen.
Mama bekommt eigentlich alle Krankheiten in den Griff, bis auf mein Nasenbluten. Aber das ist nicht so schlimm. Es tut ja gar nicht weh, nur die Sachen sind dann manchmal dreckig, wenn ich es nicht früh genug merke.
Kapitel 25
„Guten Tag. Mein Name ist Professor Stefan Wieland. Ich hatte Sie gestern schon einmal angerufen.“
Schweigen am anderen Ende der Telefonleitung.
„Es tut mir leid, Sie erneut zu belästigen, aber es ist wirklich wichtig, dass ich mit jemandem spreche, der ihre Frau gut kennt. Sie müssen es nicht persönlich sein, wenn Sie sich dazu noch nicht in der Lage fühlen, aber vielleicht können sie mir jemand anderen nennen, an den ich mich wenden kann?“
„Nein. Ich bedaure. Da gibt es niemanden.“
„Ihre Frau hat den Namen Sabine erwähnt. Sagt Ihnen das etwas?“
Ein Räuspern, dann: „Nein.“
„Es könnte sich um die Schwester Ihrer Frau handeln“, versuchte Professor Wieland doch noch etwas heraus zu bekommen.
„Meine …“, wieder ein Räuspern.
„Meine Frau hat keine Geschwister.“
Professor Wieland zog die Stirn kraus. Hatte Doktor Fabian sich verhört?
„Sind Sie ganz sicher?“, hakte er nach.
„Absolut. Ich kenne meine Frau seit über zwanzig Jahren. Wir sind gut sechzehn Jahre verheiratet. Würde ich es nicht wissen, wenn sie Geschwister hätte?“
Dieser Logik war kaum zu widersprechen. Wieland kratzte sich am Kinn.
„Können wir uns nicht einmal treffen, um …“
„Nein! Ich hatte Sie schon gestern gebeten, mich in Ruhe zu lassen. Sie müssen das doch verstehen!“
Herr Schütz klang jetzt sehr aufgebracht. So kamen sie nicht weiter.
„Entschuldigen Sie. Für die Behandlung Ihrer Frau wäre es nur sehr wichtig …“
Wieder wurde der Professor unterbrochen.
„Ich denke nicht, dass die Frau, die sie bei sich haben etwas mit der Frau zu tun hat, mit der ich verheiratet bin!“
Kapitel 26
Es geht mir gut. Ich schwebe auf einer Wolke. Alles ist in Ordnung. Mir tut nichts weh. Mein Kopf ist völlig leer. Das ist so schön! Es soll gar nicht mehr aufhören.
„Geht es dir besser?“
Er ist da! Der Engel mit den blauen Augen. Ich versuche ihn anzulächeln. Sein Gesicht verschwimmt. Meine Zunge ist nicht mehr schwer, aber trotzdem bekomme ich kein Wort heraus. Ich verstehe es nicht. Er drückt meine gesunde Hand.
„Soll ich dir jetzt was auf den Gips malen?“
Er ist so lieb! Er hat ganz neue Stifte mitgebracht. Die sind noch richtig lang und das Papier drum herum ist noch heil. Da war auch noch ein Buch. Mein Buch! Wo ist es hin? Haben sie es mir wieder weggenommen?“
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