Die Sünde in mir
fort: „Ich würde sagen, die Tat geschah im Affekt und hatte nichts mit Borderline zu tun.“
Professor Wieland lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Fingerspitzen beider Hände gegeneinander. Er dachte über die Worte seines Gegenübers nach.
„Borderliner sind sehr impulsiv und haben Probleme mit der Kontrolle von Wut und anderen Gefühlen. Das würde zu der Tat passen, die Frau Schütz begangen hat. Von meinem Empfinden her stimme ich Ihnen zu, aber ganz ausschließen dürfen wir das Borderline - Syndrom noch nicht. Dafür wissen wir zu wenig über ihr Vorleben und gerade über ihre Ehe.“
„Was ist mit Schizophrenie?“, wollte Frank wissen.
Professor Wieland lächelte verhalten.
„Passt immer“, meinte er und hob dann die Brauen, „aber so einfach wollen wir es uns doch nicht machen, oder?“
Frank schüttelte den Kopf.
„Nur Geduld. Früher oder später werden wir auch dieser Patientin eine Diagnose stellen. Seien wir lieber gründlich, statt sie einfach so in eine Schublade zu stecken.
Frank hätte es besser gefunden, einen körperlichen Grund für Nicoles Verhalten zu finden, einen Tumor zum Beispiel. Dann hätte sie nichts für ihre Tat gekonnt und wäre vermutlich durch eine Operation oder Chemotherapie zu heilen gewesen. Frank wusste aus Erfahrung, dass körperliche Gebrechen von den Mitmenschen wesentlich besser aufgenommen wurden, als psychische Erkrankungen.
„Sollen wir nicht noch ein MRT mit Kontrastmittel machen?“, fragte er.
Professor Wieland schüttelte den Kopf.
„Wir haben alles untersucht. Nun bleibt uns nur noch ihre Krankheit zu analysieren und ihr zu helfen.“
„Sie ist so glücklich in diesem kindlichen Verhalten“, stellte Frank mit einem Kloß im Hals fest.
„Aber sie kann dort nicht ewig bleiben. Sie ist nun mal kein Kind mehr. Im Moment erscheint sie Ihnen glücklich zu sein, aber sie befindet sich vermutlich nicht in einer Zeitschleife. Irgendwann wird der Punkt kommen, an dem ihre Psyche Schaden genommen hat. Das soll sie doch nicht noch einmal durchmachen, oder?“
„Nein, natürlich nicht.“
„Gut, dann lassen Sie sich mal etwas einfallen, wie wir sie in die Gegenwart locken können.“
Kapitel 44
Frank ist wieder da! Ich freue mich so. Er ist immer noch komisch, aber er lacht auch schon wieder.
„Sollen wir einen Ausflug machen?“, fragt er.
Ich weiß nicht. Ich fühle mich in dem Zimmer sicher, aber ich bin auch ein bisschen neugierig, was draußen ist. Wenn Frank mitkommt, kann mir doch nichts passieren, oder? Ich sehe an mir herunter. Die Sachen, die ich anhabe, gehören mir nicht. Ich kann mich auch gar nicht erinnern, sie angezogen zu haben. Kann ich damit überhaupt raus gehen?
„Den Jogginganzug habe ich dir mitgebracht“, erklärt Frank, „ich finde, er steht dir.“
Ich lächle ihn an. Der Anzug ist sehr flauschig und warm. Er ist weiß mit rosa Schrift und rosa Bündchen. Wie ich damit aussehe, weiß ich nicht, denn hier gibt es keinen Spiegel. Ich greife nach meinem Haar. Es ist länger als sonst, aber es fühlt sich komisch an, so stumpf.
„Möchtest du später duschen und die Haare waschen?“, fragt Frank.
Duschen? Wir haben doch nur die Badewanne. Die Haare waschen wir auch immer über dem Wannenrand. Aber ich bin ja gar nicht zu Hause. Das fällt mir jetzt ein. Ich bin ja in dem Heim, oder? Ich glaube, ich möchte doch lieber hier drin bleiben.
„Nicole? Was ist denn? Soll ich dich an die Hand nehmen?“
Ich weiß nicht. Warum stellt er mir so viele Fragen? Ich glaube, ich will lieber in mein Bett. Frank nimmt meine Hand und zieht mich zur Tür. Je näher wir kommen, desto mehr Angst habe ich.
„Komm schon! Du bist die ganze Zeit nur in deinem Zimmer. Das muss doch langweilig sein. Wir gehen nur einmal den Flur rauf und runter und ich zeige dir die Station, okay?“
Die Station? Was ist das denn hier? Ich habe Angst. Ich kenne mich hier nicht aus. Meine Hand krallt sich an seine.
„Dir passiert nichts. Ich passe auf dich auf. Du kannst mir vertrauen“, redet Frank auf mich ein.
Er öffnet die Tür und ich spähe vorsichtig hinaus. Meine Füße wollen nicht laufen. Sie fühlen sich ganz schwer an.
„Siehst du, da ist nichts. Lass uns ein bisschen weiter gehen.“
Er geht vor und zieht mich hinterher. Mein Hals wird lang und länger, als ich versuche, um die Ecke zu spähen. Wir sind auf einem kahlen Flur. Hier steht gar nichts herum
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