Die Sünde
war ihm die Gier nach jungen, hübschen Männern zum Verhängnis geworden. Die Schmerzen, die Erniedrigung, das Ausgeliefertsein waren plötzlich kein Spiel mehr, sondern tödliche Wirklichkeit.
Er musste seine Chance suchen. Die Kamera! Sie beobachteten ihn damit. Sicher nicht ständig, aber bestimmt immer mal wieder. Er könnte eine Ohnmacht oder einen epileptischen Anfall vortäuschen. Dann würde er abwarten, ob der Kahlköpfige allein kam. Er würde das bedauernswerte, hilflose Opfer spielen, das zu keiner Gegenwehr mehr fähig und deshalb bereit war, jede Vollmacht zu unterschreiben. Nein, er musste es nicht spielen, er war es in Wirklichkeit auch. Bis auf eine Ausnahme: Er war nicht ganz wehrlos. Sobald die Schmerzen nachließen, würde er alle Kräfte bündeln, um seinen Bewacher zu überrumpeln und zu fliehen. Er würde den Ausgang aus diesem Horrorhaus finden und nackt, wie er war, mitten auf die Straße laufen. Aber gab es hier überhaupt eine Straße? Er hatte nie Motorengeräusche vernommen. Sicher hatten sie seine Zelle schalldicht isoliert. Sie mussten ja damit rechnen, dass er aus Leibeskräften schreien würde. Deshalb konnte er auch keinerlei Geräusche von außen wahrnehmen. Aber irgendwo musste das Gebäude ja stehen. Deutschland ist dicht besiedelt. Er würde nach seiner Flucht sehr bald Hilfe finden. Vielleicht befand sich sein Verlies sogar mitten in einer Stadt. Es war alles möglich.
34
Nawrods rechte Hand umfasste das Glas. Er drückte so fest zu, dass die Fingerknöchel weiß wurden. »Sammi« hatte dieser Dreckskerl seine Tochter genannt. Wahrscheinlich teilte er schon längst mit Eva das Bett. Seine Eva! Er war immer noch mit ihr verheiratet und er liebte sie. Liebte er sie wirklich? Warum war es dann so weit gekommen? War es wegen Charly? Warum hatte er nicht reagiert, als der Dealer die Waffe auf Charlys Hinterkopf gerichtet und drei Sekunden später abgedrückt hatte? Drei Sekunden! Sie hätten ausgereicht, den Killer auszuschalten. Charly könnte noch leben. Sein bester Freund. Nun verlor er auch noch Eva und Samia. Der Bourbon würde ihm gut tun. Würde ihm helfen zu vergessen. Er führte das Glas langsam an den Mund. Die Hand? Seltsam, sie zitterte nicht. Es hatte andere Zeiten gegeben. Zeiten, in denen er in Gegenwart anderer keinen Kaffee hatte trinken können, weil er so stark gezittert hatte, dass er ihn verschüttete. Erst wenn er einen bestimmten Alkoholpegel erreicht hatte, ließ dieses verdammte Zittern etwas nach. Immer im Tran, immer auf dem Vergessen-wollen-Trip. Nichts als grauer Nebel im Kopf. Schlaflose Nächte im stinkenden Bett. Zusammengekauert in Embryohaltung, weil der hochprozentige Alkohol die Schleimhaut angegriffen und Schmerzen verursacht hatte.
Nawrod zog noch einmal den Geruch des Whiskys durch die Nase. Dann atmete er tief durch. Unendlich langsam stellte er das Glas wieder auf die Theke. Danach schob er es mit dem Handrücken zur Seite, als ob er es einem Nachbarn hinschieben wollte, den es nicht gab. Ohne den Barkeeper anzusehen, zog er einen Zehn-Euro-Schein aus der Tasche und legte ihn auf den Tresen. Dann begab er sich mit festen Schritten zum Ausgang. Bevor er die Türklinke nach unten drückte, drehte er sich noch einmal um. »Joe Cocker« hatte sich das Glas geschnappt und trank es in einem Zug aus.
Zurück in seinem Büro sah Nawrod auf dem Display seines Telefons, dass Sabine Bauer versucht hatte, ihn zu erreichen. Er betätigte die Rückruftaste.
»Schön, dass du zurückrufst«, begrüßte sie ihn.
»Ist doch selbstverständlich, Sabine. Ich nehme an, du wolltest mir etwas Wichtiges mitteilen.«
»Du klingst so seltsam. Ist was?«
Nawrod suchte nach einer Antwort. Natürlich war was, aber das ging niemanden etwas an. »Was soll schon sein?«, antwortete er und gab sich Mühe, seiner Stimme einen normalen Klang zu geben. »Schieß los, was wolltest du von mir?«
»Wie willst du es haben? Erst die schlechte oder die gute Nachricht?« Sie lachte verhalten.
»Die schlechte zuerst«, antwortete Nawrod mit einem unguten Gefühl im Bauch.
»Die Prints auf den Paketen stammen nicht von Haider.«
»Bist du dir ganz sicher?«
»Es gibt keinen Zweifel. Aber das ist noch nicht alles. Barbara hat mitgeteilt, dass der Finger vor etwa drei bis vier Tagen abgetrennt wurde und die DNA nicht vom ersten Opfer stammt.«
»Das war eigentlich schon klar. Haider hat eine E-Mail an Pfaff geschickt, aus der das hervorgeht. Du warst ja auch gleich der
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