Die Sünde
Schließmechanismus überwinden konnte.
Der Flur war stockdunkel. Nawrod ließ die Tür weit offen stehen, damit von draußen wenigstens noch etwas von dem spärlichen Dämmerlicht hereinfallen konnte. Aber Nacht und Regen hatten inzwischen das bisschen Tageslicht gänzlich verschluckt. Er tastete sich an der Wand entlang. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Den Atem anhaltend, lauschte er nach Geräuschen. Nichts, absolut nichts war zu hören. Seine Finger erfühlten eine Türklinke. Er drückte sie nach unten. Die Tür knarrte leise, als er sie langsam nach innen öffnete. Der Raum war dunkel. Er tastete nach dem Lichtschalter. Es war ein vorstehender, circa zehn Millimeter kleiner Hebel, woraus er schloss, dass es sich um einen sehr alten Schalter handeln musste. Nawrod atmete tief durch. Wieder konzentrierte er sich ganz auf sein Gehör. In dem Haus war es gespenstisch still. Wo war Dreyer? Er konnte sich ja nicht in Luft aufgelöst haben. Hatte er sich vielleicht schon schlafen gelegt? Dazu war es aber noch zu früh.
Nawrod wusste, dass seine einzige Chance darin bestand, Dreyer zu überraschen und ihn mit gezielten Handkantenschlägen sofort kampfunfähig zu machen. Adrenalin schoss durch seinen Körper. Es betäubte den Schmerz im Oberschenkel. Obwohl er ahnte, dass der Raum leer war, musste er sich Gewissheit verschaffen. Er betätigte den kleinen Hebel für den Bruchteil einer Sekunde. Das grelle Licht hatte seine durch die Dunkelheit weit geöffneten Pupillen zwar geblendet, aber es reichte, um seine Vermutung zu bestätigen. In diesem Zimmer hielt sich Dreyer nicht auf. Er schlich weiter den Flur entlang und kam an die nächste Tür. Wieder das gleiche Spiel. Doch dieses Mal ließ er das Licht länger an. In dem Raum stand ein großer Kleiderständer, an dem eine Richterrobe, die Uniform eines Justizvollzugsbeamten, zwei Arztkittel sowie verschiedene Frauenkleider hingen. Auf einem Tisch daneben lagen mehrere Frauenperücken und jede Menge Schminkutensilien. Auf einem anderen Tisch waren chirurgische Instrumente abgelegt, unter anderem auch eine Knochensäge.
Er war auf der richtigen Fährte. Darüber gab es jetzt keinen Zweifel mehr. Aber was wäre, wenn Dreyer nicht allein war? Hätte er da eine Chance? Er musste es riskieren. Es gab kein Zurück für ihn. Leise schaltete er das Licht aus. Er brauchte wiederum einige Zeit, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Dann schlich er weiter. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs ertastete er wieder eine geschlossene Tür. Als er sie nahezu geräuschlos öffnete, waberte ihm ein sonderbar süßlicher und dennoch beißender Geruch entgegen, der ihm bekannt vorkam. Er wusste nicht, woher. Doch er ahnte, dass der eklige Geruch nichts Gutes bedeutete. Als er den Lichtschalter betätigt und sein Verstand die Situation erfasst hatte, wünschte er sich, er hätte dieses Haus niemals betreten. Unwillkürlich stieß er einen kurzen Schrei aus.
Es war das Badezimmer. Die Badewanne war bis zur Hälfte mit einer graubraunen Brühe gefüllt. Salzsäure, schoss es ihm durch den Kopf. In der Wanne lag die Leiche eines Menschen. Die Unterarme schwammen an der Oberfläche und waren größtenteils bis auf die Knochen aufgelöst. Beide Knie ragten Zentimeter aus der bestialisch stinkenden Flüssigkeit. Während die Kniescheiben noch ganz erhalten waren, hatte sich die Säure unterhalb der Gelenke bereits bis zu den Knochen durchgefressen. Ihr gelblichweißes Aussehen ließ Nawrod erschaudern.
Der bis auf das Gesicht eingetauchte Kopf, beziehungsweise das, was davon noch übrig war, ließ keine Rückschlüsse auf das Geschlecht der Leiche zu. Längst hatten sich Augen, Ohren, Nase und Mundpartie aufgelöst. Die freigelegten Zähne schienen Nawrod hämisch anzulachen. Nur an den Wangenknochen hing noch etwas gelbliche Haut. Nawrod wusste, dass ihn dieser Anblick bis an sein Lebensende nicht mehr loslassen würde. Es überfiel ihn ein Brechreiz, dem er nur dadurch begegnen konnte, dass er sofort die Tür schloss, um im Flur nach frischer Luft zu schnappen.
»Guten Abend, Herr Nawrod!« Die Stimme klang ruhig und besonnen. »Wie konnten Sie so töricht sein hierherzukommen?«
Nawrod fuhr herum. Dreyer stand etwa vier Meter hinter ihm. Er hielt ein Gewehr im Anschlag. Erst jetzt merkte Nawrod, dass jemand im Flur das Licht eingeschaltet hatte. Er sah Dreyer in die Augen und wusste sofort, dass er keine Chance hatte. Das Letzte, was er wahrnahm, waren
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