Die Sünde
das Geräusch des Schusses und seine Verwunderung darüber, dass es keinen lauten Knall gab.
53
»Hallo, Herr Nawrod … oh, entschuldigen Sie, Herr Kriminalhauptkommissar Nawrod.« Den Titel betonte er in gespielt anerkennender Weise.
»Ich hoffe, Ihnen ist der kurze Schlaf gut bekommen und Sie haben keinen Kater von der Betäubung. Herr Nawrod … Nawrod, sind Sie da?«
Zeitverzögert und wie aus weiter Ferne drang die Stimme an Nawrods Ohr. Dann spürte er das Klatschen von Händen in seinem Gesicht. Er war zu müde, um auf die dumpf wirkenden Schläge zu reagieren. Krampfhaft versuchte er die Augen zu öffnen. Aber seine Lider fielen immer wieder zu. Er wollte sprechen, doch sein Mund gehorchte ihm nicht und sein Verstand noch viel weniger. Mit weit gespreizten Fingern versuchte er Worte festzuhalten. Doch sie schienen unerreichbar für ihn zu sein. Selbst Buchstaben verhielten sich in seinem Gehirn wie Flummis, die sich unkontrolliert in alle Richtungen ausbreiteten und dabei die skurrilsten Formen annahmen. Unmöglich, sie in Reih und Glied zu einem Wort oder gar Satz zu ordnen.
»Ich spritze Ihnen ein Gegenmittel«, hörte er die lallende, wie unter Wasser getauchte Stimme sagen. »Ich hab ja nicht ewig Zeit.« Die Stimme schien blau gefärbt zu sein. Nein, rosa! Oder war sie doch mehr gelb mit grünen Nuancen? Er konnte sich nicht entscheiden. Aber es schien ihm keineswegs ungewöhnlich, dass die Stimme und ihre Töne gefärbt waren.
Mit geschlossenen Augen wartete er auf den Einstich. Was sollte er sonst tun? Wehren konnte er sich nicht. Auf jedem Quadratzentimeter seines Körpers lasteten Tonnen einer undefinierbaren Masse, die drohte, ihn zu erdrücken, und ihn völlig bewegungslos machte. Andererseits hatte er aber auch das Gefühl zu schweben. Wie konnte man schweben, wenn eine solche Last jede Bewegung im Keim erstickte?
Wann stach er endlich? Oder war die Injektion schon erfolgt und er hatte es nur nicht gemerkt? Langsam fiel die tonnenschwere Last von ihm. Das Schweben nahm einen breiteren Raum in seiner Wahrnehmung ein. Übergangslos wurde alles auf einmal wirklicher. Er lag auf dem Rücken. Schließlich konnte er seine Augen öffnen. Wie der Autofokus einer Kamera versuchten sie, ihre Sehschärfe zu finden. Es war Dreyer, der neben ihm stand und lächelnd auf ihn herabsah.
»Na, sind wir wieder da?«, fragte er. Die Stimme des Rechtsmediziners klang angenehm ruhig. Mit dem Daumen schob er Nawrods linkes Augenlid nach oben und ließ es gleich wieder los.
Nawrod wollte aufstehen. Doch irgendetwas hinderte ihn daran. Er wollte nachsehen, was das sein könnte, aber er konnte seinen Kopf keinen Millimeter bewegen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass seine Stirn mit einem Riemen festgezurrt war. Im gleichen Moment fühlte er auch die Fesselung an Armen, Beinen und Oberkörper. Nur die Finger und die Zehen konnten noch den Impulsen des Gehirns gehorchen. Der restliche Körper fühlte sich an wie einbetoniert. Für einen Augenblick wünschte er sich wieder in den Schwebezustand von eben zurück. Das wäre immer noch besser, als Dreyer dermaßen ausgeliefert zu sein. Dreyer, der Arzt, Rechtsmediziner und Mörder zugleich war. Es brauchte nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, was Dreyer mit ihm vorhatte. Diese Bestie in Menschengestalt würde ihn ebenso zerstückeln, wie er es mit Otte und Radecke gemacht hatte. War die von Säure halbzerfressene Leiche in der Badewanne Philipp Otte oder war es schon Gottwald Radecke?
Schlagartig wurde Nawrod bewusst, dass er nur noch drei Waffen hatte, um sich zu wehren: seinen Verstand, seine Augen und seinen Mund. Aber diese Waffen erschienen ihm geradezu lächerlich gegen die Möglichkeiten, die Dreyer bei dem ungleichen Kampf einsetzen konnte. Sollte er überhaupt kämpfen? Sollte er nicht lieber hoffen, dass Dreyer kurzen Prozess mit ihm machte? Denn eines war sicher: Doktor Lukas Dreyer konnte ihn nicht am Leben lassen. Das hätte dessen Untergang und den seiner Mittäter bedeutet.
Nawrod überlegte, welche Taktik ihm blieb. Er könnte Dreyer derart reizen, ihn buchstäblich zur Weißglut bringen, dass der Mörder ihn unweigerlich töten würde. Die Alternative wäre, er würde all seine Erfahrungen, die er mit Tätern gesammelt hatte, all sein Verhandlungsgeschick einbringen, um Dreyer zur Umkehr zu bewegen. Aber war das überhaupt möglich? Ohne Zweifel handelte es sich bei Doktor Dreyer um einen Psychopathen, der vor nichts zurückschreckte, um seine
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