Die Sünde
Ziele zu erreichen. Und solche Täter waren unberechenbar. Diese bittere Erfahrung hatte Nawrod schon mehrfach machen müssen. Einmal glaubte er, einen Amokläufer so weit gebracht zu haben, dass er aufgab. Der Mann hatte in einem Supermarkt schon drei Menschen mit einer Machete getötet. Er hatte mit dem rasiermesserscharfen Buschmesser wahllos auf Kunden eingeschlagen. Eine alte Frau hatte er mit einem Hieb enthauptet. Mit der Pistole im Anschlag hatte Nawrod vor ihm gestanden. Der Irre hatte eine junge Frau in seiner Gewalt. Er hielt ihr das Messer an den Hals und schrie wirres Zeug. Nawrod konnte ihn beruhigen, und als er dachte, der Mann würde das Messer fallen lassen, geschah genau das Gegenteil. Ihm freundlich zulächelnd schnitt der Amokläufer der Frau die Kehle durch.
Der Mann überlebte die drei Kugeln, die Nawrod auf ihn abfeuerte. Statt ins Gefängnis wurde er anschließend in die forensische Psychiatrie eingewiesen. Das Gleiche würde mit Doktor Dreyer geschehen, wenn man seiner habhaft werden und ihn als Mörder überführen würde.
»Warum?« Nawrod brachte das Wort nur mit Mühe hervor. Seine Stimmbänder fühlten sich wie Reibeisen an. Offensichtlich wirkte das Betäubungsmittel in den Schleimhäuten immer noch. Es lähmte die Speichel produzierenden Drüsen.
Dreyer setzte sich neben Nawrod und verschränkte die Arme vor der Brust. »Das haben wir doch in unseren Botschaften unmissverständlich zum Ausdruck gebracht.«
Nawrod entschloss sich, auf Zeit zu spielen. Wenn schon sterben, dann wollte er vorher zumindest den Mann und dessen Motive einigermaßen kennenlernen, der seinem Leben ein Ende setzen würde. Er hatte wir gesagt. Also war Dreyer, wie vermutet, nicht allein. Wo hielten sich die anderen Täter auf? Würden sie noch kommen und sich an seiner Ermordung beteiligen? Dreyer hatte sie bestimmt schon verständigt.
»Sie meinen in diesen lateinischen Versen? Daraus konnte doch kein Mensch richtig schlau werden.« Um Dreyer aus der Reserve zu locken, versuchte Nawrod, so unwissend wie nur möglich zu klingen.
Dreyer lächelte freundlich. »Ja, in diesen Versen und in den Texten, die unsere Verbündeten Haider und Pfaff liebenswerterweise der Öffentlichkeit zugänglich gemacht haben.«
Nawrod kniff die Augen zusammen. Uhl hatte recht. Es handelte sich um eine Bande von Verbrechern, in der jeder seine Aufgabe zu haben schien.
»Wer außer Haider und Pfaff gehörte noch dazu?«
Dreyers Lächeln schien echt zu sein. Und keinesfalls überheblich. Nicht das eines Siegers. Vielmehr das eines Menschen, der einem anderen aus Gutmütigkeit etwas vermittelt und daran einfach Freude empfindet.
»Eins nach dem anderen. Sie fragten nach dem Warum? Ich will es Ihnen sagen.« Dreyers Hand fuhr zum Kinn. Er überlegte wohl, wie er anfangen sollte. Nawrod nutzte die Zeit, sich weitere Gedanken über seine eigene Strategie zu machen.
Als Dreyer fortfuhr, war das Lächeln aus seinem Gesicht gewichen. Ernst und Traurigkeit hatten sich darin breitgemacht.
»Sie haben uns Furchtbares angetan. Sie haben uns vergewaltigt, gedemütigt und innerlich zerrissen. Sie sind für den Tod meiner Mutter, für den Tod Benjamins und für den grässlichen Tod Jochen Kapps verantwortlich. Sie haben die Seelen unzähliger Kinder zerstört und tun es immer noch. Es gibt leider keine Statistik, wie viele dieser zerstörten Seelen, wie viele Kinder sich danach das Leben genommen haben oder es sich noch nehmen werden. Bei Jochen Kapp dauerte es über zwanzig Jahre, bis er es nicht mehr aushielt, innerlich verblutet und verfault zu sein.«
»Warum wählte er gerade diese Art der Selbsttötung«, fragte Nawrod.
»Wahrscheinlich wollte er wenigstens einmal in seinem Leben etwas Großes machen. Ich denke, er wollte der Polizei auch ein Rätsel aufgeben. Aber vielleicht war es nur ein Zeichen für uns.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sein spektakulärer Selbstmord hat in der Presse mächtig Staub aufgewirbelt. Ein abgetrennter Kopf ist ja auch nichts Alltägliches. Erst dadurch kamen wir auf die Idee, die beiden Expfaffen, die uns vergewaltigt haben, zu kidnappen, um sie danach stückweise an Sie zu verschicken.«
»Du zeigtest mir den Weg interpretierte unser Profiler so, dass ich Ihnen den Weg zu diesen Verbrechen zeigte. Dann trifft das also gar nicht zu?« In Nawrods Stimme lag Erleichterung.
»Doch, das trifft zu. Zwar nur bedingt, aber es entspricht den Tatsachen. Zuerst zeigte uns Jochen Kapp den Weg. Doch dann
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