Die Sünde
Dreyer hatte es anscheinend überhaupt nicht eilig. Er schien sich seiner Sache sicher zu sein. Oder hatte er Angst vor Radarfallen? Seine Fahrweise kam Nawrod auf jeden Fall entgegen. Er konnte genügend Abstand halten, ohne dass die Gefahr bestand, den Golf aus den Augen zu verlieren.
Lange bevor Dreyer links abbog, hatte er den Blinker gesetzt. Da er wegen Gegenverkehr anhalten musste, war Nawrod gezwungen, ebenfalls zu bremsen und auf den Golf aufzuschließen. Er sah, dass es sich um eine schmale Straße handelte, in die Dreyer abbiegen wollte. Anlieger frei, stand auf dem Schild am Straßenrand. Wollte er nicht auffallen, konnte er Dreyer unmöglich folgen. Er sah, dass Dreyer vor dem Abbiegen in den Rückspiegel schaute. Hatte er ihn erkannt? Sie hatten sich nur ein einziges Mal gesehen. Oder vielmehr, Dreyer hatte ihn gesehen. Der Gerichtsmediziner hatte damals ja eine Mütze getragen, eine Brille und einen Mundschutz, sodass Nawrod ihn unmöglich an seinem Gesicht wiedererkennen konnte. Aber es war Dreyer, der den Wagen in die schmale Straße lenkte. Wer sollte es sonst sein?
51
Doktor Lukas Dreyer hatte drei Semester Theologie studiert. Er wollte katholischer Priester werden, um denen möglichst nahe zu sein, die seine Kindheit zerstört und seine Mutter in den Tod getrieben hatten. Und die auch dafür verantwortlich waren, dass er in ein Heim und später zu Pflegeeltern gekommen war.
Schon früh wurde er von dem Gedanken getrieben, Rache zu üben, und insgeheim hoffte er, dass er damit die Kirche von den Frevlern befreien könnte und dafür mit Amt und Würden reich belohnt werden würde. Wie die Rache aussehen sollte, darüber hatte er sich noch nicht den Kopf zerbrochen.
Er brauchte nicht lange, bis ihm klar wurde, dass dies ein hoffnungsloses Unterfangen war. Niemals würden Bischöfe oder der Vatikan konkret gegen Priester vorgehen, die Kinder missbraucht hatten oder immer noch missbrauchten. Viel zu viele von den hohen Würdenträgern hatten selbst genügend Dreck am Stecken. Das wurde dem jungen Theologiestudenten spätestens in dem Moment klar, als in Deutschland ein aufstrebender Bischof namens Semmler zum Missbrauchsbeauftragten der katholischen Kirche ernannt wurde. Insider wussten, dass er ein Wolf im Schafspelz war.
Bischof Semmler hatte in der Öffentlichkeit den besten Ruf. Er galt als hochintelligent und ging bei Politikern ein und aus. Seine diplomatischen Fähigkeiten musste man schon als legendär bezeichnen. Wenn überhaupt, war nur er fähig, die immer wieder in Form von Missbrauchsanzeigen aufkommenden Wogen, die gegen die brüchig gewordenen Mauern der katholischen Kirche schlugen, irgendwie zu glätten. In Bischof Semmler wurde die Hoffnung gesetzt, er könne die hohe Zahl von Kirchenaustritten wirksam eindämmen.
Aber Dreyer spürte, dass die Menschen nicht mehr so dumm und einfältig waren wie noch vor Jahren. Durch die permanente Berichterstattung der Medien waren sie hellhöriger geworden. Hinzu kam, dass sich der Klerus in geradezu bornierter Weise immer noch der Wissenschaft verweigerte, die plausible Erklärungen zur Entstehung der Erde und des Menschen lieferte.
Dreyer beobachtete das Wirken des Missbrauchsbeauftragten mit Argusaugen. Semmler tat so, als ob er auf der Seite der Opfer stehen würde. In Wirklichkeit verfolgte er nur die Interessen der Kirche und der betroffenen Priester. Die Kirche hatte anscheinend eine unüberwindbare Mauer um die Verbrechen seiner Priester gebaut. Unter diesen Umständen erschien es Dreyer unmöglich, seine Vorsätze zu verwirklichen, die Kirche von diesem Krebsgeschwür und seinen Metastasen zu befreien. Außerdem gewann er bei zahlreichen Diskussionen mit Studienkollegen immer mehr den Eindruck, dass die Päderastie bereits bei den Studenten weit verbreitet war. Resigniert ließ er die Sache auf sich beruhen und konzentrierte sich voll und ganz auf sein Medizinstudium. Nach acht Semestern schloss er mit der Note 1,2 ab. Anschließend nahm er das Angebot an, eine gewisse Zeit als Assistent bei Professor Haberer in der Gerichtsmedizin zu arbeiten, bis eine Stelle im Krebszentrum frei werden würde.
Eines Abends traf er dann Jochen Kapp und Markus Schaller in einer Heidelberger Altstadtkneipe. Es war reiner Zufall. Sie hatten sich seit ihrer Ministrantenzeit nicht mehr gesehen. Dreyer erkannte die beiden sofort und sprach sie an. Man trank zusammen und tauschte sich aus. Kapp trank mehr als die anderen. Er war ein psychisches Wrack
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