Die Sünde
Nesrin Yalcin, die Muslima, die eigentlich keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Wie hatte sie überhaupt die Waffe und den Wagen ihres Vater stehlen können? Das würde er ihr nie verzeihen. Er würde sie verstoßen.
»Hey, Kleine, komm zu dir!« Nawrod legte den Arm um ihre Schulter. »Du hast mir das Leben gerettet. Das werde ich dir nie vergessen.« Nawrod drehte Yalcin sanft zu sich herum und sah ihr in die Augen. Unendliche Traurigkeit spiegelte sich darin. Mit dem Handrücken wischte er ihr die Tränen von den Wangen. Dann nahm er sie in den Arm, drückte sie an sich, streichelte zärtlich über ihr Haar und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich rede noch heute mit deinem Vater, versprochen!«
Yalcin nickte und atmete laut hörbar durch.
»Was ist denn das für eine Scheiße?« Wegners Stimme klang schneidend und vorwurfsvoll. Die Funkleitzentrale hatte ihn und die anderen Soko-Mitglieder alarmiert. Er war der Erste, der vor Ort erschien. »Nawrod, wie kommen Sie dazu? Sie … Sie …, ich hatte Sie doch suspendiert? Und Sie, Frau Yalcin, was suchen Sie hier? Haben Sie vergessen, dass Sie aus dem Polizeidienst entlassen wurden? Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?«
Nawrod ließ Yalcin los und drehte sich um. Sein Blick saugte sich an der mächtigen Gestalt Wegners fest. Der Soko-Leiter schien plötzlich wie versteinert. Die beiden taxierten sich sekundenlang, bis Nawrod zu sprechen begann. »Es waren Doktor Lukas Dreyer von der Rechtsmedizin Heidelberg und Schaller, dieser Tierpfleger aus dem Zoo. Schaller liegt tot in der Badewanne. Weitere Täter gibt es nicht. Wir haben Radecke gefunden. Er ist außer Lebensgefahr. Dreyer wollte mich töten und dieses Haus niederbrennen. Nesrin, ich meine die Kollegin, hat mich im allerletzten Moment gerettet. Sie konnte Dreyer kampfunfähig schießen.«
Der seltsam ruhige Klang von Nawrods Worten war es, der Wegner dazu bewog, kurz zu nicken. Sein Blick senkte sich zu Boden. Es dauerte einige Zeit, bis er seinen bulligen Schädel hob. Er griff sich an die linke Brustseite. Während er Nawrod ansah, führte seine Hand zwei, drei Massagebewegungen durch.
»Woher hatten Sie die Waffe, Frau Yalcin?«
»Sie gehört meinem Vater. Ich habe sie ihm gestohlen. Er weiß nichts davon. Aber die Knarre ist legal.«
Wegner hob die Augenbrauen und schüttelte den Kopf. Dann sah er Nawrod an.
»Bis morgen früh um 10 Uhr ist Ihr Bericht auf meinem Tisch! Haben wir uns verstanden?«
Nawrod zeigte keinerlei Regung. Nach einigen Sekunden schaute er zu Yalcin und dann zu Wegner. Der Soko-Leiter verstand sofort.
»Und Sie, Frau Yalcin … der Innenminister wird nicht umhin kommen … ich meine, bevor ihm die Presse Druck macht. Sobald ich mir hier einen Überblick verschafft habe, werde ich ihn anrufen und …« Wegner räusperte sich. »Sie kommen bitte morgen in mein Büro und nehmen Ihren Ausweis sowie Ihre Dienstwaffe in Empfang. Selbstverständlich erwarte ich auch von Ihnen einen Bericht. Die Waffe Ihres Vaters wird vorerst beschlagnahmt. Wenn das Verfahren abgeschlossen ist, kann sie Ihr Vater wieder zurückhaben.«
Nawrod ließ seinen BMW stehen, da Yalcin ihn bat, er möge den Wagen ihres Vaters nach Hause fahren. Sie war innerlich dermaßen aufgewühlt, dass sie Angst hatte, in der nächstbesten Kurve ins Schleudern zu geraten. Schweigend saßen sie nebeneinander. Jeder hing seinen Gedanken nach.
»Ist es nicht sonderbar?«, unterbrach Nawrod das monotone Geräusch des Motors. »Als er mich auf dem Tisch festgeschnallt hatte und mir die tödliche Injektion verabreichen wollte, wünschte ich ihn in die Hölle, wo er bis zum jüngsten Tag braten sollte. Und jetzt empfinde ich mit ihm plötzlich so etwas wie Mitleid.«
»Mir geht es ganz ähnlich.« Yalcin schluckte.
»Was muss er, was müssen aber auch der kleine Junge und Jochen Kapp durchgemacht haben, bevor sie ihrem Leben ein Ende setzten!«
»Welcher kleine Junge?«
»Dreyer hat mir von ihm erzählt. Er hieß Benjamin Söger. Der Kleine wurde vor 20 Jahren von Otte und den anderen Priestern ebenso missbraucht wie Dreyer. Er hielt die Tortur nur zweimal aus. Dann lief er vor einen Zug.«
»Das ist ja furchtbar! Wer weiß, wie viele kaputte Seelen es noch gab beziehungsweise gibt, die sich das Leben genommen haben oder noch nehmen werden.«
»Wenn wir den Fall nicht gelöst hätten, wäre nie ans Licht gekommen, weshalb Kapp und der kleine Junge Selbstmord begangen haben.«
»Wir müssen die Eltern
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