Die Sünde
Als guter Ministrant könntest du selbst einmal Pfarrer werden. Du musst in der Schule nur fleißig lernen. Ach, ich bin ja so stolz auf dich!« Sie nimmt ihn in den Arm und drückt ihn fest an sich. Dann gibt sie ihm einen Kuss auf die Wange.
Wenn sie nur nicht immer so riechen würde. Und wenn sie sehr riecht, schläft sie meistens auch auf der Couch ein. Einmal hat sie mitten im Wohnzimmer gelegen. Sie ist tot, hat er gedacht. Sie hat aber nur geschlafen und noch schlechter gerochen.
»Du musst dem Herrn Pfarrer immer schön gehorchen. Dann ist deine Mama stolz auf dich. Ich habe es Tante Rita erzählt. Die konnte es gar nicht glauben und hat gestrahlt vor Freude.«
Er nickt. Sagt nichts mehr. Er ist auch immer stumm, wenn der Herr Pfarrer etwas zu ihm sagt. Und wenn Hochwürden etwas tut, ist er auch stumm. Selbst wenn er wollte, könnte er nichts sagen, nichts tun, weil ihm sein Kopf und sein Körper nicht mehr gehören, nicht mehr gehorchen. Weil er darin nicht mehr ist. Es hat sich ein anderer hineingeschlichen. Einer, der wie gefrorenes Wasser erstarrt ist und alles mit sich machen lässt, obwohl er es nicht will und es eine Sünde ist. Ja, es ist eine Sünde, das weiß er genau. Aber Hochwürden sagt, er sei auserwählt, wie Jesus seine Apostel und Gott Josef und Maria auserwählt hätten. Die Sünde habe der Satan über ihn gebracht. Er müsse mit der Sünde noch eine Zeit lang leben, so lange, bis ihn Jesu Barmherzigkeit rette. Auch er als Pfarrer müsse mit der Sünde leben, um später beweisen zu können, dass er dem Satan und all seinen Werken irgendwann entsagt habe.
Hochwürden spricht lange mit ihm. Er sieht seine nackten Beine mit den vielen schwarzen Haaren und dem großen dunklen Fleck unter dem Bauchnabel. Das sei das Schandmal des Teufels, sagt der Herr Pfarrer, und es gehe erst weg, wenn er sich von der Sünde befreit habe. Dazu brauche er seine Hilfe.
Er ist doch noch so klein. Wie soll er einem Erwachsenen helfen? Einem Pfarrer?
Die anderen beiden Pfarrer haben keinen dunklen Fleck. Nirgends. Nicht auf dem Rücken und nicht auf dem Bauch, obwohl sie ebenfalls von der Sünde heimgesucht werden. Der eine hat überall helle Haare und ganz weiße Haut. Da würde man so einen Fleck sofort sehen. Aber bei der Sünde riechen sie alle drei gleich. Der andere Bub sagt das auch. Aber nur zu ihm. Sonst ist er genauso still. Manchmal schauen sich beide an. Der andere hat dann große Augen und atmet laut durch die Nase, weil er seinen Mund fest verschlossen hält. Einmal hat er bei ihm Tränen gesehen. Er selbst weint nicht. Mama wäre traurig, wenn sie das erfahren würde.
An Weihnachten wollte Mama seine Hände mit der gleichen Salbe eincremen. Es war nach dem Duschen. Er hat es sofort gerochen und hat die Buchstaben auf der Dose gesehen. Mama hat ihm eine Ohrfeige gegeben, weil er ihr die Dose aus der Hand geschlagen hat und die Vaseline sich überall auf dem Teppichboden ausbreitete. Dann weinte sie. Später kam dann doch noch das Christkind.
15
Radecke erkannte ihn nicht. Wie auch? Es waren gut zwanzig Jahre vergangen, und damals hatte er kurze, gescheitelte Haare und ein schmales Bubengesicht. Er trocknete sich langsam ab. Radecke tat es ihm gleich. In verhaltenem Tonfall und ohne Radecke anzuschauen, sagte der junge Mann: »Einen Hunderter für die normale Nummer. Alles andere kostet extra. Draußen auf dem Parkplatz steht mein Wohnmobil. Es trägt auf der Seite die Aufschrift Sunrise . Du steigst hinten ein. In 30 Minuten, okay? Wir sollten nicht zusammen gesehen werden.« Erst jetzt sah er Radecke an.
»Einverstanden«, antwortete Radecke. Ein erwartungsvolles Lächeln umspielte seine wulstigen Lippen. Getrennt verließen sie den Duschraum. Radeckes Mundschleimhäute waren trotz der hohen Luftfeuchtigkeit so trocken wie Sand in der Wüste. Er musste mehrfach schlucken, bis er sich gefasst hatte.
Er ist ein Stricher, dachte er. Na und? Ein Edelstricher allerbester Sahne. Den konnte er sich nicht entgehen lassen. So etwas lief einem nicht jeden Tag über den Weg. Egal, was er zu bieten hatte, allein schon wegen seines Aussehens war der sein Geld wert. Wenn es sein musste, würde er sogar noch einen Hunderter drauflegen. Schließlich schuftete er Woche für Woche. Da konnte man sich doch ein bisschen Vergnügen leisten.
Radecke legte sich nach dem Duschen auf eine Liege. Einen Saunagang wollte er nicht machen. Er wollte keine Energie verschwenden. Die brauchte er für später. Obwohl
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