Die Sünde
Untersuchungsanträge. Sie sprengten bei Weitem die Kapazität der Labore.
Nachdem in den Zeitungen die Phantombilder erschienen waren, meldeten sich zahlreiche Zeugen, die behaupteten, eine oder beide Frauen schon einmal gesehen zu haben. Manche gaben sogar an, die Gesuchten zu kennen. Wegner und Yalcin hatten alle Mühe, die Hinweise nach Wichtigkeit und Qualität zu ordnen, um sie danach an die Ermittlungsteams zur Bearbeitung weiterzugeben.
Nawrod war ununterbrochen unterwegs. Er konzentrierte seine Ermittlungen im für ihn fast unüberschaubaren Bereich der Personen, die aufgrund medizinischer Kenntnisse in der Lage waren, Menschen Körperteile fachmännisch abzutrennen, ihnen sogar ein Herz nach allen Regeln der ärztlichen Kunst zu entnehmen. Aber was für ein Arzt musste das sein, der sich über den hippokratischen Eid skrupellos hinwegsetzte und einen Menschen nach und nach zerstückelte? Warum machte diese Bestie das? Es war für Nawrod überhaupt kein Motiv zu erkennen. Schon gar nicht konnte er sich erklären, weshalb der Mörder explizit ihn als Adressaten ausgesucht hatte.
17
Günter Uhl war Profiler mit Leib und Seele. Er hatte seine Qualifikation während eines entsprechenden Studiums vor etwa acht Jahren erworben. Seitdem hatte er immer wieder Seminare und Tagungen besucht, in denen die vielschichtigen Themen eines Profilers behandelt wurden. Uhl arbeitete bei der Inspektion 360 B des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg und dort in der Operativen Fallanalyse, genannt OFA .
Zuvor war er jahrelang Zielfahnder gewesen. Da er bei dieser Art von Arbeit oftmals Tage und Wochen in ganz Deutschland, manchmal sogar überall auf der Welt unterwegs gewesen war und seine Frau sowie die beiden halbwüchsigen Kinder hatte allein lassen müssen, hatte es in der Ehe gekriselt. Kurz vor dem Auseinanderbrechen hatte er die Reißleine gezogen. Er hatte versprochen, wieder regelmäßig zu Hause zu sein, und sich bei der OFA beworben, denn er hatte schon immer ein Faible dafür gehabt, Verbrechen mit den Mitteln der Psychologie zu bekämpfen. Damit war er bereits als Zielfahnder sehr erfolgreich gewesen. Keiner konnte sich so gut in das Fluchtverhalten eines Täters hineinversetzen wie Uhl.
Als ihn Nawrods Anruf erreichte, war er gerade damit befasst, seinen Abschlussbericht für eine Soko in Karlsruhe zu schreiben, die es mit einem Erpresser zu tun hatte, der mehrfach Lebensmittel in einem bekannten Warenhaus vergiftet hatte. Uhls Fallanalyse hatte entscheidend dazu beigetragen, dass der Täter nach Monaten zäher Ermittlungen gefasst werden konnte.
Nawrod schilderte kurz, was sich bisher in Heidelberg zugetragen hatte. Er schloss damit, dass die Presse bereits gewaltigen Druck mache und der Innenminister den Fall deshalb zur Chefsache erklärt habe.
»Interessant!« bemerkte Uhl. »Äußerst interessanter Fall. Ich werde Sie morgen früh gegen 10 Uhr besuchen. Dann können wir Näheres besprechen.«
»Heute«, entgegnete Nawrod trocken. »Wenn Sie bitte heute noch kommen könnten«, wiederholte er, nachdem der andere sekundenlang nicht antwortete.
»Aber ich …«
Nawrod schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ich würde Sie nicht darum bitten, wenn ich es nicht für dringend erforderlich halten würde.« Der Nachdruck in seiner Stimme duldete keinen Widerspruch. Als erfahrener Psychoanalytiker spürte Uhl sofort, dass mit Nawrod in dieser Hinsicht nicht zu spaßen war. Nawrod hörte, wie Uhl laut durchatmete.
»Okay, ich bin spätestens in zwei Stunden bei Ihnen. Bis dahin machen Sie mir eine vollständige Kopie der Akte. Ich brauche alle Details des Falles, auch die kleinsten.«
»Das dürfte kein Problem sein.«
»Und noch etwas: Erwarten Sie keine Wunder. Ich bin nicht derjenige, der für Sie Kohlen aus dem Feuer holt. Mit viel Glück kann ich Ihnen einige gute Tipps geben. Mehr aber auch nicht. Und ich brauche Zeit. Je früher Sie sich mit dieser Tatsache abfinden, desto besser wird es laufen.«
Nawrod wurde laut. »Zeit ist das, was wir nicht haben. Bewegen Sie Ihren Hintern. Wir tun es auch. Nicht auszudenken, wenn sich der Mörder ein neues Opfer sucht und das Verstümmelungsspiel von Neuem beginnt. In zwei Stunden sind Sie bitte auf der Matte, haben wir uns verstanden?« Ohne eine Antwort abzuwarten, legte Nawrod auf.
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Inzwischen hatte sich die Soko »Päckchen« im großen Besprechungsraum der Polizeidirektion eingerichtet. Etwa die Hälfte der Soko-Mitglieder recherchierte mit
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