Die Sünde
Erkenntnissen über Ansgar Haider und Robert Pfaff übereinstimmte, würde das ein weiteres wichtiges Indiz gegen die Reporter darstellen. Der Fairness halber hatte Wegner dem Profiler gegenüber angedeutet, dass es eine neue Entwicklung gebe, die noch nicht spruchreif sei. Uhl hatte die Äußerung Wegners mit der Bemerkung zur Kenntnis genommen, dass seine Analyse aufgrund der kurzen Zeit, die ihm zur Verfügung stand, auch nicht vollständig und schon gar nicht aussagekräftig genug sei, um konkrete Hinweise zur Ermittlung des Täters oder zur Identifizierung des Opfer zu liefern. »In diesem Fall ist vieles möglich«, hatte Uhl mit einem Stirnrunzeln zu Wegner gesagt. Damit hatte er sich den Rücken für etwaige Fehleinschätzungen freigehalten.
Uhl warf das erste Bild an die Leinwand und klatschte zweimal laut in die Hände. »Darf ich um Ihre geschätzte Aufmerksamkeit bitten?« Im Konferenzraum wurde es schlagartig ruhig.
»Ich habe die Analyse in vier Bereiche eingeteilt.« Die Anwesenden konnten in riesigen Buchstaben die Wörter Täter, Opfer, Tat und Tatort lesen.
»Kommen wir gleich zum Täter«, fuhr Uhl fort. »Im vorliegenden Fall haben wir es höchstwahrscheinlich mit einem relativ intelligenten, männlichen Einzeltäter zu tun, der eine profunde medizinische und unter Umständen auch theologische Ausbildung genossen haben dürfte. Darauf deuten sowohl seine Lateinkenntnisse als auch die, aus medizinischer Sicht gesehen, fachgerechte Entnahme von Körperteilen des Opfers hin. Da der Täter keinerlei Skrupel hat, seinem Opfer große Schmerzen zuzufügen, bevor er es endgültig tötet, muss davon ausgegangen werden, dass ihm, aus welchem Grund auch immer, jegliche Empathie gegenüber Menschen verloren gegangen ist. Es ist deshalb schwer vorstellbar, dass unser Mörder noch praktizierender Arzt respektive Chirurg ist, also ein Mensch, der durch seine Arbeit Leben rettet. Vielleicht ist er ein Mediziner, der aus irgendeinem Grund entlassen wurde. Diese Annahme ist jedoch sehr spekulativ. Das Motiv des Täters liegt für mich noch völlig im Dunkeln. Es könnte reine Verstümmelungs- oder Mordlust sein. Doch kommen auch andere Motive wie sexuelle Gier und Abartigkeit, Bereicherung, Frustration, Rache, religiöser Fanatismus, experimentelles Versuchen, ja sogar Kannibalismus infrage. Möglicherweise liegen diese Motive in unserem Fall auch in gemischter Form vor.«
Ein Raunen ging durch den Raum. Die Mitglieder der Soko steckten ihre Köpfe zusammen und begannen zu diskutieren. Yalcin fragte Nawrod mit weit aufgerissenen Augen: »Wie kommt er denn auf Kannibalismus? Dafür gibt es doch überhaupt keine Anhaltspunkte?«
»Er hat nur auf mögliche Tatmotive hingewiesen«, antwortete Nawrod leise. »Da man uns mit Ausnahme des Herzens nur kleine Körperteile geschickt hat und die Leiche des Opfers bisher nicht gefunden wurde, kann es durchaus sein, dass aus dem großen Rest Wurst gemacht wurde.« Nawrod grinste.
»Und die dann noch verkauft hat!«, entfuhr es Yalcin. Sie schüttelte ungläubig den Kopf.
»Es ist alles möglich. Du glaubst gar nicht, zu was Menschen fähig sind. Wir hatten in Stuttgart mal einen Fall …« Nawrod hielt inne. Er spürte eine Hand an seinem linken Unterarm, die einen sanften Druck ausübte. »Jürgen, Uhl möchte weitermachen«, sagte Sabine Bauer leise und lächelte Nawrod dabei an. Er nickte und sah kurz auf die schmale Hand der Kriminaltechnikerin. Die Fingernägel waren weder übermäßig lang noch lackiert, doch auffallend gepflegt. Ihre ovale, an den Enden gleichmäßig zu einer stumpfen Spitze abgerundete Form passte zu den schlanken Fingern. Warum ist mir das nicht schon vorher aufgefallen, fragte sich Nawrod.
Seine rechte Hand legte sich auf die von Sabine Bauer. Es war mehr eine Reflexbewegung als Absicht. Er spürte eine wohltuende Wärme und ein leichtes Kribbeln. Dann zog er die Hand auch schon wieder zurück.
»Laut Statistik sind Täter, die in der Lage sind, eine derart grausame Tat zu begehen, nicht mehr im jugendlichen Alter«, fuhr Uhl fort. Das Gemurmel verstummte. »Ich schätze, der Täter könnte zwischen 30 und 40 Jahre alt sein. Vielleicht auch älter. Charakteristisch für ihn ist, dass er andere Menschen bevorzugt als eine Art Werkzeug einsetzt. Legt man die Zeugenaussagen zugrunde, benutzte er wahrscheinlich zwei Frauen als Botinnen. Es könnten seine Ehefrau und seine Mutter oder Schwiegermutter gewesen sein. Noch wichtiger erscheint mir,
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