Die Suenden der Vergangenheit
voraussichtlichen Rückkehr am Ende der Woche gesprochen. So, wie sie sich in Wirklichkeit fühlte, war am Ende des Monats momentan wahrscheinlicher. Doch nur, weil man ihr gegenüber schonungslos ehrlich gewesen war, hieß das noch lange nicht, dass sie es auch sein musste.
Vielleicht würde sie das Ende des Monats schon gar nicht mehr erleben.
Noch lag Gloria im Bett. Das Telefon neben sich. Ausgeschaltet, weil sie nicht mehr die Kraft für weitere Notlügen aufbringen würde. Schon gar nicht, wenn ihre Tante zum wiederholten Male versuchte, sie zu erreichen. Gloria wollte nicht mit ihr sprechen und allein sein. Vorerst. Sie wusste ja, dass im Notfall sofort jemand an ihrer Seite sein würde. Bereits kurz nach ihrer Rückkehr in ihr Apartment, das trotz des Versuchs, ihm eine persönliche Note zu geben, immer noch nur nach überteuerter Gästeherberge aussah, hatte man eine neue Sicherheitsanlage installiert. Mr. Avery hatte Nicos Aufforderung zu Glorias Schutz Folge geleistet. Außerdem war irgendwo dort unten, draußen auf der Straße, jemand, der sie nicht aus den Augen lassen würde, wenn sie sich doch dazu entschloss, aus dem Haus zu gehen. Sie war am gesamten Wochenende nicht ein einziges Mal ausgegangen. Ihr Kühlschrank sah von Innen genauso aus wie sie sich selbst fühlte. Leer.
Das Album lag auf ihrem Schoß. Zugeklappt. Den Inhalt kannte Gloria mittlerweile auswendig und trotzdem entdeckte sie bei jedem Aufschlagen neue Details auf den Fotos, die ihr einen möglichen Aufschluss darüber gaben, wie ihre Eltern gewesen sein mochten. Der Stammbaum ihres Vaters las sich wie der eines Adeligen aus einem Geschichtsbuch und reichte weit bis ins Mittelalter zurück, wobei ihr Vater laut Geburtsdatum 1767 geboren worden und bei Glorias Geburt bereits 204 Jahre alt gewesen war, während Mathildas Alter schon bei über 500 Jahren lag.
Es war unglaublich. Sie waren nicht gealtert. Ab einem bestimmten Zeitpunkt ihres Lebens war ihr Körper einfach eingefroren. Stehen geblieben auf seinem Zenit in voller Blüte, wo er für die nächsten Jahre, nein Jahrhunderte bleiben würde. Mathilda war immerhin ein bisschen älter geworden.
Was daran lag, dass sie nicht mehr regelmäßig das Blut eines Immaculate-Mannes zu sich nahm und nur von Plasmabeuteln speiste. Deswegen war es Gloria wohl nie aufgefallen, die sich eigentlich nie um das Äußere ihrer Tante gekümmert und mit ihrem eigenen schon genug zu tun hatte, als es auf die High-School und später dann ans Studium ging. Warum auch?
Mathilda hatte sich in Glorias Gegenwart sogar einmal ein (angeblich) graues Haar vor dem Spiegel gezogen. In dem gesamten Buch gab es nur zwei Fotos, auf denen sie ebenfalls zu sehen war. Einmal in einem feierlichen, weißen Ornat, was weit vor Glorias Zeit und noch vor dem Kennenlernen zwischen ihren Eltern gewesen sein musste. Und einmal mit ihrem Bruder zusammen in festlichem Ballstaat. Nicht minder feierlich und nicht minder ernst.
Wenn sie diese Art von Bildern ihrer Tante sah, die sie eigentlich nur freundlich bis leicht ungeduldig kannte, wurde ihr ganz anders. Sie sah darauf so furchteinflößend und gebieterisch aus. Ein ganz klarer Gegensatz zu ihrem Vater, von dem Mathilda immer behauptete, er wäre ihr so ähnlich gewesen. Wenn sie denn überhaupt über ihn sprach.
Dieser große, dunkelhaarige und überaus gutaussehende Mann mit den markanten Gesichtszügen und freundlich drein blickenden braunen Augen war Mathilda sicher nicht im Mindesten ähnlich. Sowohl innerlich als auch äußerlich. Er sah so freundlich aus. Freundlich und offen. Gloria hätte ihn den Fotos nach höchstens für Mitte Dreißig gehalten. Sein Lächeln war umwerfend, ohne zu blenden, und Gloria wusste sofort, dass sie ihren Vater sehr geliebt hätte und umgekehrt, sofern sie die Möglichkeit gehabt hätten, einander richtig kennenzulernen.
Das Alter ihrer Mutter dagegen entsprach der Realität. Da sie ja auch eine Breed und noch keine Unsterbliche gewesen war, wie Nico ihr erzählt hatte, war sie zum Zeitpunkt der Geburt und ihres frühen Todes 29 Jahre alt gewesen. Nur knapp zwei Jahre älter als Gloria jetzt.
Neue Tränen schossen Gloria in die Augen, während sie ihre strahlend schöne Mutter vor sich sah, die so liebevoll und glücklich auf jedem Bild lächelte. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass sie eine glückliche Familie gewesen wären und dass sich ihre Eltern sehr geliebt hatten. Die handschriftlichen Briefe, die jemand (ganz sicher
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