Die Sünden meiner Väter: Roman (German Edition)
es einfach »fühle, berufen zu sein«. Meine Entscheidung für das Priesteramt hatte jedoch einen weitaus prosaischeren Grund. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, etwas anderes zu machen. Ich wollte in einer Gemeinde arbeiten, wollte den Menschen helfen und dienen, die Messe lesen und die Sterbesakramente erteilen. Schon als Junge habe ich freiwillige Kirchenarbeit geleistet; die Priester waren mir Vorbilder, die ich bewunderte. Entgegen landläufiger Ansicht habe ich nichts gegen Frauen und fürchte sie auch nicht. Ich bin gern in weiblicher Gesellschaft, hatte aber noch nie das Bedürfnis, verheiratet zu sein oder Kinder zu bekommen. Entgegen den Vermutungen meiner Mutter bin ich auch nicht schwul. Ich mag das zölibatäre Leben. Dad war außer sich vor Freude, als ich ihm mitteilte, das Priesterseminar besuchen zu wollen. Nichts, so sagte er mir, hätte ihn mit größerem Stolz erfüllen können.
Ein paar Jahre später stieß ich während meiner Zeit im Priesterseminar auf einen Zeitungsbericht über Oliver Ryan. Er wurde als »literarische Sensation« gehandelt. Ich erinnerte mich wieder daran, dass er ein entfernter Cousin war, doch nannte er sich jetzt nicht mehr Oliver Ryan, sondern Vincent Dax. Als mein Vater mich das nächste Mal besuchen kam, erzählte ich ihm davon und bat ihn, mir jenen familiären Zusammenhang zu erklären, den er einem kleinen Jungen nicht hatte erklären können. Noch immer schien Dad das Thema sehr unangenehm. Olivers Mutter sei eine »Frau von zweifelhaftem Ruf« gewesen, sagte er schließlich. Ich fragte nach Olivers Beziehung zu uns; wenn er Ryan hieß, war er doch gewiss ein Cousin väterlicherseits? Dad sah beiseite und sagte, Olivers Vater sei früh an Tuberkulose gestorben. Ich merkte, dass er mich anlog, und meinte, auch den Grund zu wissen. Wenn Olivers Mutter eine Prostituierte gewesen war, hielt ich es für möglich, dass sein Vater an der Syphilis oder irgendeiner anderen Geschlechtskrankheit gestorben war, und Dad mir unnötige Einzelheiten ersparen wollte. Um ihn nicht noch weiter in Bedrängnis zu bringen, beließ ich es dabei. Abschließend bemerkte ich nur noch, dass es auf jeden Fall nicht schlecht sei, einen berühmten Autor in der Familie zu haben. Hier zuckte Dad regelrecht zusammen. Eindringlich riet er mir, mich nicht mit einem Familienskandal in Verbindung bringen zu lassen, wenn ich in der Kirche Karriere machen wolle. Und ich wusste, dass er recht hatte.
Dennoch verfolgte ich Vincent Dax’ Erfolg in den Medien. Ich kaufte sogar eines seiner Bücher. Es war wirklich sehr gut. Und so war ich im Stillen stolz auf meinen Cousin, behielt unsere Beziehung zueinander aber für mich.
Am Tag meiner Priesterweihe war wohl niemand glücklicher als Dad. Ich war froh, ihm solche Freude bereiten zu können. Wir waren uns immer sehr nah gewesen, mein Vater und ich. In vielerlei Hinsicht gleichgesinnt, könnte man sagen. Für meine Ordinationsfeier gab er mehr aus als andere Väter für eine Hochzeit. Er bestand sogar auf handgenähten Roben. Meine Mutter hatte rot verweinte Augen, doch stellte sie ihre Vorbehalte hintenan und wünschte mir aus tiefstem Herzen alles Gute.
Noch immer fällt es mir schwer zu akzeptieren, dass mein Vater mich in etwas so Grundlegendem belogen hat. Selbst auf seinem Sterbebett konnte er mir nicht die Wahrheit sagen. Fast elf Jahre ist es jetzt her, dass ich die Tatsachen erfahren habe, aber trotzdem … noch immer kann ich nur schwer daran glauben. Wie kann ich mir sicher sein, wenn der einzige Mensch, der mir Gewissheit hätte geben können, nicht mehr unter uns ist?
Sechs Wochen vor seinem Tod hat man bei meinem Vater Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert. Sein Leiden war nur von kurzer Dauer, und er wusste, dass er sterben würde. Zufälligerweise war ich als Seelsorger ausgerechnet jenem Spital zugeteilt, in dem er seine letzten Wochen verbrachte. Was bedeutete, dass ich bei ihm sein, an seinem Bett sitzen und mit ihm beten konnte. Eine Chemotherapie hätte ihm mehr Zeit verschafft, doch er hat sie abgelehnt, da ihm die Qualität der verbleibenden Zeit wichtiger war als deren Quantität. Seine Schmerzen ließen sich mit Medikamenten gut beherrschen, Besucher empfing er mit Anstand und Würde. Ganz am Ende, als klar wurde, dass es nur noch eine Frage von wenigen Tagen oder Stunden war, sind meine Mutter und ich nicht mehr von seiner Seite gewichen. Beide bemühten wir uns um einen Ton der Zuversicht, obwohl wir längst wussten,
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