Die Sünden meiner Väter: Roman (German Edition)
oder andere gesellschaftliche Veranstaltungen. Dad blieb lieber zu Hause, las ein Buch oder sah sich Dokumentationen und Naturfilme im Fernsehen an. Er war nicht gern unter Leuten. Während meiner Kindheit haben meine Eltern nur zweimal eine Party gegeben, und ich erinnere mich noch gut, wie unwohl mein Vater sich bei diesen Gelegenheiten gefühlt hat. Er trank nur selten und mied die Gesellschaft von Leuten, die getrunken hatten. Ich habe meinen Vater immer sehr bewundert, und obwohl ich meine Mutter von ganzem Herzen liebe, entspricht seine Lebensweise mir doch mehr.
Ich war ein ernstes Kind, ruhig und in mich gekehrt, meistens auch gehorsam. Meine Eltern brüsteten sich damit, dass ich ihnen »keinen Ärger« mache. Meine schulischen Leistungen waren überdurchschnittlich, meine sportlichen eher nicht, aber ich war »bemüht«. Ich schloss leicht Freundschaften und wurde oft zum Klassensprecher gewählt. Mum blieb tagsüber zu Hause, Dad ging zu seiner Arbeit als Rechnungsprüfer in der Erzdiözese. Bevor mein Vater meine Mutter kennengelernt hat, ist er Priester gewesen. Einen ehemaligen Priester zum Vater zu haben, war keineswegs so ungewöhnlich, wie es klingt. Viele Männer seiner Generation sind auf Wunsch ihrer Familien Priester geworden und haben erst später gemerkt, dass es keineswegs ihre Berufung war. Mum war die Nichte seines Bischofs, weshalb ich immer davon ausgegangen bin, dass Dad seiner Zuneigung zu Mum wegen die Kirche verlassen hatte. Gesprochen wurde bei uns zu Hause nicht über solche Dinge. Mein Vater hatte noch immer etwas so Priesterliches an sich, dass ich mich oft fragte, ob er seine Entscheidung bereute. Einmal, als ich etwas älter war, fragte ich ihn danach; er seufzte nur und wechselte das Thema. Meist war er ein liebevoller Vater, vorzugsweise dann, wenn ich ein braver Junge war. Fehlverhalten wurde mit Standpauken geahndet, auf welche lange Phasen des Schweigens folgen konnten. Sehr früh schon habe ich gelernt, dass mir nur dann vergeben wurde, wenn ich um Vergebung bat.
Oliver Ryan kannte ich aus der Schule; er war etliche Klassen über mir, weshalb wir kaum Kontakt miteinander hatten. Eigentlich erinnere ich mich nur deswegen an ihn, weil er mir mit seinem seltsamen Verhalten immer ein bisschen Angst eingejagt hat. Die Schüler der unteren und der oberen Klassen waren in unterschiedlichen Gebäuden untergebracht, aber auf dem Korridor oder den Sportplätzen lief ich Oliver hin und wieder über den Weg. Mir war unheimlich, wie er mich anstarrte. Ich hatte immer das Gefühl, dass er mich jeden Moment ansprechen könnte, aber er sagte nie ein Wort, starrte mich immer nur an. Mit meinen sieben, acht Jahren war mir das nicht so ganz geheuer. Er war viel älter als ich, sah groß und stark aus, wenngleich etwas abgerissen, wie man vermutlich ohne Übertreibung sagen kann. Seine Schuluniform passte nie richtig, die Hosen waren zu kurz, die Pullover an den Ellbogen durchgescheuert. Ich versuchte, nicht weiter auf ihn zu achten und ihm nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen. Wir hatten denselben Nachnamen, aber da es ein geläufiger Name war und an unserer Schule noch andere so hießen, dachte ich mir nichts dabei. Er besuchte die Oberstufe des Internats, ich als Tagesschüler die Grundschule.
Eines Freitagmittags wurde ich auf einen Botengang hinüber an die Oberschule geschickt; ich sollte dem Chemielehrer irgendeine Nachricht aushändigen. Als ich durch den oberen Flur lief, fiel mir auf, dass man von einem der Fenster einen ziemlich guten Blick auf unser Haus hatte. Ich blieb kurz stehen, um einen Augenblick hinauszuschauen, dann ging ich schnell weiter, um meinen Auftrag zu erledigen. Als ich wenig später denselben Weg zurückkam, sah ich Oliver an genau diesem Fenster stehen. Er hielt sich ein Fernglas vor die Augen und wirkte so konzentriert, dass er mich nicht mal bemerkte, als ich an ihm vorbeihuschte. Ich drehte mich noch einmal um und fand meinen Verdacht bestätigt. Das Fernglas war direkt auf unser Haus gerichtet. Er beobachtete mein Haus .
Als ich nach der Schule nach Hause ging, versuchte ich den Vorfall einfach zu vergessen, war Stunden später aber noch immer verstört und durcheinander. Nachdem wir bei Tisch den Segen gesprochen hatten und Mum das Abendessen auftrug, brachte ich die Sache zur Sprache.
»Bei mir an der Schule ist ein Junge, der unser Haus beobachtet.«
»Ich glaube, du liest zu viele Comics«, sagte Dad und sah kaum von den Akten auf, die er sich
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