Die Sünden meiner Väter: Roman (German Edition)
dass es keine Hoffnung mehr gab. Er war noch bei Bewusstsein, als ich ihm die Sterbesakramente erteilte, oder die letzte Ölung, wie es so treffend heißt.
Für mich ist die Krankensalbung das bedeutsamste aller Sakramente. Es soll dem Patienten Kraft und Frieden geben und den Mut, Schmerz und Leid zu ertragen, ihn eins werden lassen mit der Passion Christi. Die letzte Ölung bereitet ihm den Weg für den Übergang ins ewige Leben und die Vergebung seiner Sünden. Mein Vater nahm meine Worte entgegen und senkte mit letzter Kraft den Kopf zum Gebet, meine Mutter indes, die mir gegenüber auf der anderen Seite seines Bettes saß, fasste ihn sanft beim Arm.
»Francis? Möchtest du Philip noch etwas sagen?«
Ich geriet kurz aus dem Konzept und war wohl auch etwas verärgert, dass Mum einen so friedvollen Moment stören musste. Mein Vater begann unruhig zu werden. Er versuchte sich aufzusetzen, und ich schob ihm ein Kissen unter die Schultern, um es ihm leichter zu machen. Er schloss die Augen und atmete tief aus. Fragend schaute ich meine Mutter an.
»Francis«, sagte sie noch einmal und strich ihm über die zerfurchte Stirn, »es ist an der Zeit, es ihm zu sagen.«
Mein Vater vergrub sein Gesicht im Kissen, als wolle er uns beide nicht sehen; sein Körper bebte unter der Bettdecke. Er weinte. Es erschütterte mich, ihn in solcher Qual zu sehen. Tadelnd sah ich meine Mutter an und rief nach einer Schwester, damit sie die Dosis seiner Morphininfusion erhöhe. Was immer es sein mochte, jetzt war ganz gewiss nicht die Zeit dafür. Mein Vater begann sich zu entspannen, und wir hielten seine Hände, bis er langsam in Bewusstlosigkeit sank. Er verstarb wenige Stunden später, kurz vor Tagesanbruch.
Einen Tag nach der Beisetzung meines Vaters erfuhr ich von Mum, dass Oliver Ryan mein Halbbruder war. Sie hätte sich gewünscht, dass mein Vater selbst es mir sagte, aber bis zuletzt habe er sich zu sehr geschämt. Als er in den Fünfzigern Priester gewesen sei, so meine Mutter, habe er eine Frau geschwängert. Wahrscheinlich eine Krankenschwester, vielleicht auch eine Nonne. Mum glaubte nicht, dass sie eine Prostituierte war, wie mein Vater mir hatte weismachen wollen, als er mir erzählt hatte, Oliver sei ein entfernter Cousin. Den Namen der Mutter habe mein Vater nie preisgegeben. Mum wusste nur, dass die Frau ihr Kind verstoßen habe und danach spurlos verschwunden sei, so hatte mein Vater es ihr am Anfang ihrer Beziehung gestanden. Er habe die Ehe frei von Altlasten beginnen wollen und Oliver nach St. Finian’s in die Obhut der Priester gegeben. Mum hingegen war immer der Ansicht gewesen, dass Dad damit einen großen Fehler gemacht habe.
Meine Mutter war nicht der Grund für das Ausscheiden meines Vaters aus dem Priesterstand; die beiden hatten sich erst einige Jahre später kennengelernt. Laut Mum stand mein Vater ihrer Beziehung anfänglich ablehnend gegenüber, der gemeinsame Glaube brachte sie einander jedoch näher. Dennoch hätte Dad sich seine Gefühle erst eingestehen können, als sein ehemaliger Bischof, Mums Onkel, der Verbindung seinen Segen gab. Auch nach seinem Austritt blieb mein Vater der Kirche immer eng verbunden und hat letztlich auch wieder in ihren Diensten gearbeitet.
Meine Mutter betonte ausdrücklich, dass sie Oliver gern als ihren Sohn angenommen hätte, doch Dad habe es nicht zugelassen. Es sei das Einzige gewesen, was ihr in ihrer Ehe Kummer bereitet hätte. Doch war dies ein Kapitel im Leben meines Vaters, über das er nicht sprechen, es wohl nicht einmal wahrhaben wollte. Er soll den Jungen aus tiefstem Herzen gehasst haben, und meine Mutter konnte sich nie erklären, warum.
Natürlich war ich fassungslos, als ich das hörte. Wie konnte der Vater, den ich als liebevoll und warmherzig erlebt hatte, ein Kind derart grausam behandeln? Wie hatte er mir einen Bruder versagen können? Und ganz gleich, wie und was Olivers Mutter gewesen sein mochte, woher rührte dieser unmäßige Hass auf ein unschuldiges Kind? Meine Mutter konnte mir darauf ebenso wenig eine Antwort geben wie die Priester, die meinen Vater damals kannten. Entweder sie wussten überhaupt nichts von dieser Geschichte, oder aber sie hatten wohl zu jener Zeit davon gehört, konnten dem aber auch nichts Wesentliches hinzufügen. Fast noch schlimmer war, dass Oliver all die Jahre wusste, dass wir denselben Vater hatten. Wie schrecklich das für ihn gewesen sein muss! Jetzt verstand ich auch, warum er mich in der Schule immer so
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