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Die Suendenburg

Die Suendenburg

Titel: Die Suendenburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Walz
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mühevoller Befragungen erarbeiten muss. Doch das Erlebnis stimmt mich eher nachdenklich. Es ist nicht zu übersehen, dass der bedrohliche Geist der Unversöhnlichkeit auf dieser Burg wirkt, und aus ihm ist noch nie etwas Gutes erwachsen.
    Das Überraschende ist, dass die vier Protagonisten, mit denen ich heute das zweifelhafte Vergnügen hatte, das Abendbrot zu teilen, für sich genommen durchaus anständig wirken.
    Die Gräfin Claire: eine anmutige Erscheinung, von Natur aus eher still und zurückhaltend, eine leise wie Wasser auf Kieseln plätschernde Stimme, vornehme, jedoch nicht hochmütige Gesichtszüge, weder bezaubernd schön noch unschön, durch Haltung und Freundlichkeit für sich einnehmend und zusätzlich geadelt durch die späte Mutterschaft, die ihr besonders sanfte Züge verleiht. Ein wenig erinnert sie mich an meine liebe Gerda, die vor sechshundertvierundachtzig Tagen starb, als sie unserer jüngsten Tochter das Leben schenkte.
    Aistulf: äußerst intelligent, wache Augen, kurzer Bart, freundliches Lächeln, ein guter Redner, nicht ohne Ehrgeiz, den er jedoch in einen höheren Dienst stellt. Er hat mich gebeten, ihm in Kürze meine Eindrücke über das Land zu schildern und was darin meiner Meinung nach im Argen liegt – schriftlich, als eine Art Denkschrift. Sehr ungewöhnlich.
    Baldur: von Gestalt ein Mann mit besten Eigenschaften, Arme wie Äste, Schultern wie Atlas; ich habe ihn am Nachmittag bei meinem Rundgang über die Burgmauern von oben im Sand einen Ringkampf austragen sehen, als ich noch nicht wusste, dass er Baldur ist, und er hat einen noch größeren Gegner eingeschüchtert und niedergerungen. Er macht auf mich einen rechtschaffenen, wenngleich schlichten Eindruck. Im Beisein seiner Frau wirkt er mundfaul und geradezu hilflos, sei es aus Gleichgültigkeit oder Schwäche. Es ist allerdings schon vorgekommen, dass Männer, die offensichtlich von Frauen beherrscht werden, unter der Oberfläche ein beträchtliches Eigenleben entwickelt haben.
    Oberfläche, das ist ein gutes Stichwort. Oberflächlich betrachtet haben diese Menschen ein mehr oder weniger angenehmes Wesen, dem ich jeweils etwas abgewinnen kann. Am erstaunlichsten ist dabei Elicia: Sie ist das genaue Gegenteil der Mutter, von leidenschaftlichem Feuer erfüllt, ungestüm, jedoch geradlinig, offenherzig und ursprünglich, der forsche Schritt einer von der eigenen Unbezwingbarkeit Überzeugten, von wilder und schwer erklärbarer Anziehungskraft, sie drängt und fordert, in ihren Augen liegt ein Hunger nach etwas, das ich noch nicht benennen kann. Ich würde es nicht Rache nennen, aber es hat etwas Anklagendes und passt zu dem Brief, den sie dem Gericht geschrieben hat. Ich spüre große Tiefe in ihr, eine grenzenlose Sehnsucht …
    Wie auch immer, so bewundernswerte Eigenschaften diese vier Menschen auch besitzen – sobald sie zusammenkommen, wecken sie nur das Schlechte im anderen. Elicia verlor die Beherrschung, Aistulfs Blick bekam etwas Dunkles, Baldur knackte während des Streits Walnüsse mit bloßer Faust, und sogar die Gräfin machte einen leicht gereizten Eindruck, als sie auf ihre Tochter traf. Ich gestehe zu, bisher nur das Bild eines einzigen Abends zugrunde zu legen, und die Stimmung dieses heutigen Abends muss nicht, aber sie kann stellvertretend für die allgemeine Stimmung stehen.
    Der Anstand gebot, dass ich mich nach dem Eklat sofort zurückzog. Eine Gräfin im zerrissenen Kleid darf nicht im Angesicht eines Fremden stehen, und es wäre überaus unhöflich von mir gewesen, von ihr zu verlangen, zu gehen – immerhin war sie gerade den heftigsten Vorwürfen ihrer Tochter gegenübergestellt worden. Ich hatte ohnehin wenig Neigung, dem Spektakel noch länger beizuwohnen, denn diese Angriffe machten mich, auch wenn sie nicht mir galten, irgendwie wehrlos.
    Kaum war ich in meinem Gemach angekommen, hatte den Mantel abgelegt und das Feuer geschürt, klopfte jemand an die Tür. Es handelte sich um die stumme Dienerin, die mich aufforderte, ihr zu folgen, was ich auch tat. Sie brachte mich zu ihrer Herrin, der Gräfin Claire. Sie hatte sich umgezogen und stand am anderen Ende einer geräumigen, von sechs Öllampen erleuchteten Kemenate.
    »Bitte, Vikar, tretet näher.«
    Ein angenehmes Gemach: Wandteppiche, Bodenteppiche, zwei Kamine, kostbar beschlagene Truhen und ein großer Tisch. Alles deutete darauf hin, dass die wirtschaftliche Lage der Grafschaft gut war, wenngleich jedoch der Goldsegen allein der Burg und den

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