Die Suendenburg
ich mir vor, als wäre ich unter einem Schleier verborgen. Meine Mutter sah mich nicht mehr an, wenigstens nicht in der gleichen Weise wie vorher. Im ersten Jahr nach der Geburt eines Kindes, so erklärte Bilhildis mir damals, ist das nicht ungewöhnlich. Doch in meinem Fall vergingen zwei Jahre, drei Jahre, vier Jahre, sechzehn Jahre, und nichts änderte sich. Lag es daran, dass ich das Kind meines Vaters war und Orendel das Kind eines anderen, eines Buhlen? Bei dem, was ich heute über meine Mutter weiß, ist dieser Gedanke nicht abwegig. Aistulf war damals noch nicht in der Burg, aber sie kann sich in ein anderes schönes Gesicht verliebt haben.
Meinen Vater hat sie nie gern gehabt. Warum nicht? Er hat sich sehr um sie bemüht. Ich erinnere mich noch des Schmucks, den er ihr schenkte: Armreife, Ringe, Ketten. Sie wurde mit Gold überhäuft. In der Schatzkammer liegt der Schmuck bis heute nahezu unbenutzt herum. Von einer Pilgerfahrt nach Rom, wenige Monate vor Orendels Geburt, brachte er ihr feinstes Linnen mit. Sie hat es nie getragen. Auch habe ich nie gehört, dass er sie angeschrien hätte, wohl aber sah ich, mit welcher Kälte sie ihn bisweilen betrachtete. Ich kann sie einfach nicht verstehen. Baldur ist auch kein Mann, dem ich zu Füßen liege, und ich mache es ihm nicht immer leicht mit mir, aber ich habe ihn trotz all seiner Mängel ein wenig gern.
Als ich hörte, dass Orendel bald in den Krieg geschickt werden würde, tat es mir für ihn leid, weil ich wusste, dass er sich dagegen sträubte, aber meiner Mutter gönnte ich den Schlag. Und als ich von Orendels Entführung und seinem vermuteten Tod erfuhr, trauerte auch ich, tröstete meine Mutter, so gut ich konnte, und lauerte zugleich auf ihre Zuneigung. Ich habe kaum welche erhalten, sie war wie aufgesogen. Es kam mir vor, als würde alle Liebe meiner Mutter einem unsichtbaren Engelwesen zufliegen. Ein paar Monate später heiratete ich Baldur.
Ich schrieb, dass kleine Gesten meiner Mutter genügen, um meine Wut zu entzünden. Umgekehrt gilt Ähnliches für Vater, heute mehr denn je. Der Regen, der seit dem Abend vom Himmel rauscht, bereitet mir viel Freude, höre ich doch in ihm längst vergangene Tage. Ich habe sie soeben wiederzufinden versucht, indem ich meinen Kopf aus dem Fenster streckte und mit den Händen die Tropfen auffing. Unter mir lag das große schwarze Loch der Tiefe, achthundert Fuß Leere und Dunkelheit, und darin sah ich ein lachendes Mädchen auf einem Fohlen, das von einem braunbärtigen, wettergegerbten, rüstigen Mann geführt wird, der stolz darauf ist, wie furchtlos und gut sein Mädchen reitet und wie wenig dem Mädchen der Regen ausmacht, der auf es niedergeht. Hervorragend, Elicia, sehr gut machst du das, du wirst mein bester Mann, wenn du so weitermachst. Er lacht, und ich will schneller reiten, und so rennt er vor mir und dem Fohlen her, und nun lache ich auch, und dann fällt er in den Schlamm, und ich springe erschrocken ab und gebe ihm die Hand, damit er sich daran aufrichtet, und er zieht mich zu sich hinunter, und so liegen wir beide im Schlamm, dreckig und nass von oben bis unten, und wir lachen, und er umarmt mich in jenem schweren Regen, der rauschend auf uns niederprasselt.
Meine nassen Haare tropfen auf das Pergament. Das Himmelswasser rinnt über meine Wangen, während ich schreibe, zwischendurch innehalte und über die Öllampen hinweg zum Schlaflager blicke, wo Baldur liegt. Ich fühle eine endlose Leere. Von Leere habe ich immer geglaubt, sie sei schwerelos, aber das Gegenteil ist der Fall, sie liegt wie ein Fels auf meinem Leben. Seit beinahe sieben Jahren bin ich verheiratet, kinderlos wie eine Nonne. Nun gut, Baldur hat stets seine Pflicht getan, und ich auch, entstanden ist daraus dennoch nichts, auch kein Gefühl.
Es entsteht anderweitig. Seit heute. Heute hat sich etwas verändert. Es scheint, dass der Tod meines Vaters wenigstens ein bisschen etwas Gutes hatte. Er führte jemanden hierher.
Malvin
Ich habe den vielleicht merkwürdigsten und denkwürdigsten Abend meines Lebens hinter mich gebracht. Es könnte mich erheitern und beflügeln, dass eine Tochter der Mutter das Gewand vom Körper reißt, um auf ein Kind im Bauch hinzuweisen – erheitern deshalb, weil es mich an die derben Darbietungen von fahrenden Komödianten erinnert, und beflügeln, da ich innerhalb einer Stunde mit dieser köstlichen Familie so viele Hinweise auf dem Silbertablett erhalten habe, wie ich mir als Vikar sonst in Tagen
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