Die Sündenheilerin (German Edition)
zurückbringen, ohne ein einziges Wort zu sprechen. Wochenlang blieb er in diesem Zustand, in dem alles sinnlos und der Tod wie eine unerreichbare Erlösung schien. Er, der früher alle mit seinen Erzählungen verzaubert hatte, sprach nicht mehr. Weil es keine Worte mehr gab. Er sah und hörte, was um ihn herum geschah, erkannte den Schmerz in den Augen seiner Mutter und Schwester, die tiefen Sorgenfalten seines Großvaters und Saids aschfahle Miene. Doch obwohl er all das sah und hörte, fühlte er nichts. Keine Trauer, keine Freude, kein Leid. Nur Leere. Seine Schwester war rührend um ihn besorgt, brachte ihm die köstlichsten Speisen, redete ihm gut zu, als wäre er ein Kind. Er aß immer nur ein paar Bissen, damit sie Ruhe gab und ging. Es war, als lebe nur sein Körper, seine Seele war gestorben. So blieb er in seiner eigenen Hölle gefangen, die qualvoller war als jedes Fegefeuer. Bis zu jener Nacht, da er von seinem Vater träumte. Sein Vater in seiner jugendlichen Stärke, so wie er ihn als Knabe in Erinnerung hatte. Ein starker Mann, den niemand werfen konnte und der ihn mahnte, endlich das Versprechen einzulösen, das er ihm am Sterbebett gegeben hatte.
Am folgenden Morgen sprach Philip zum ersten Mal nach langer Zeit wieder. Die eigene Stimme war ihm fremd geworden, doch es war, als würde der Lebensfunke in ihn zurückkehren. Er hatte eine Aufgabe. Es war nicht mehr alles sinnlos.
Drei Monate später waren Said und er aufgebrochen. Als sie Italien erreichten, schien er wieder ganz der Alte. Er hatte Freude am Leben, konnte lachen, scherzen und Geschichten erzählen. Nur Said wusste, dass die Schatten ihn noch immer jagten.
Ohne dass er es bemerkte, hatten seine Schritte ihn zur Liebfrauenkirche geführt. Vor dem Portal zögerte er. Sollte er eintreten? Was, wenn er dort wieder nur Leere verspürte? Die Unbarmherzigkeit Gottes, der sich von ihm abgewandt hatte, weil er eine unverzeihliche Sünde begangen hatte?
Bevor er eine Entscheidung treffen konnte, öffnete sich die Tür, und die Gläubigen strömten nach draußen. Lenas Augen leuchteten, als sie ihn entdeckte.
»Wart Ihr auch bei der Andacht? Wir hätten gemeinsam gehen können.«
Wie sehr er sie um ihren festen Glauben beneidete. Genau wie Said, der niemals den Sinn seiner Gebete infrage stellte.
»Ich habe Euch gesucht«, sagte er, ohne auf ihre Frage zu antworten. »Wann wollen wir nach Burg Schlanstedt aufbrechen?«
»Aber, aber«, mischte sich Schwester Margarita ein. »In der Ruhe liegt die Kraft. Lasst uns zünftig frühstücken, dann werden wir seiner Exzellenz, dem Bischof, Bericht erstatten und erst danach zu Fürst Leopold reiten.«
Philip hatte sich vorgenommen, sich über nichts mehr zu wundern, aber als sie den großen Saal betraten, in dem der Bischof seine Gäste zu empfangen pflegte, war er doch erstaunt. Er hatte eine üppige Ausstattung erwartet, so wie er es von den Kirchenfürsten Italiens kannte, deren Paläste schon von außen das reiche Gepränge verrieten, das im Innern herrschte.
Der Empfangssaal des Halberstädter Bischofs war von bestechender Schlichtheit. Gemauerte Wände ohne jeden Putz. Hinter dem ausladenden Lehnstuhl, auf dem der Bischof saß, hing ein großes Holzkreuz an der Wand. Einzig die Fenster zeugten vom Reichtum der Bischofsstadt, denn sie waren mit bunter Glasmalerei ausgestattet, die biblische Szenen darstellten.
Der Boden war ebenso kalt und kahl, wie es die Wände waren, die Steine hatte man so blank gescheuert, dass man sich fast darin spiegeln konnte.
Trotz dieser äußeren Bescheidenheit erschien Friedrich von Kirchberg als ein Mann, der den Genüssen des Lebens nicht abgeneigt war. Sein rundes Gesicht war gerötet und verriet den Weinliebhaber, sein Leib war von stattlicher Fülle, die seine Liebe zu guter und reichhaltiger Speise bezeugte, und seine Hände waren von der Gicht gezeichnet. Die roten Knötchen über den Fingergelenken mussten ihm manch schwere Nacht bescheren. Doch in seinen Augen lebte ein wacher Geist. In seiner Rechten hielt er das Schreiben der Mutter Oberin. Schwester Margarita schritt sofort auf ihn zu, um die bischöfliche Hand zu küssen, doch seine Exzellenz wehrte ab. Vermutlich weniger, weil er keinen Wert darauf legte, sondern vielmehr weil er Schmerzen bei der Berührung befürchtete. Philip war froh darüber. Er hasste derartige Demutsbezeugungen.
Der Bischof ließ den Blick über die kleine Gruppe wandern. Von Schwester Margarita zu Lena, dann zu Said, den
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