Die Sündenheilerin (German Edition)
würde, ebenso wie Martin, aber er wollte, dass ich entkam. Sein letztes Wort war ›Lauf!‹, bevor Barbarossas Klinge ihm in den Leib fuhr. Das mag edler klingen als der Tod Eures Vaters. Und ich habe den Trost, jemand anderen für seinen Tod verantwortlich machen zu können. Ihr hasst Euch selbst, aber Ihr solltet es nicht länger tun, denn damit schmäht Ihr das Vermächtnis Eures Vaters, der das niemals gewollt hätte. Ebenso gut könntet Ihr ihn hassen, weil er vergaß, dass er kein junger Mann mehr war.«
Philip atmete tief durch.
»Ich habe nie darüber nachgedacht, was es für meinen Vater bedeutet hätte, wenn ich an jenem Tag gestorben wäre«, sagte er leise und hob den Blick. Dann sah er Lena in die Augen. Seine Seelenflamme flackerte noch immer, aber in ihrer Tiefe erkannte Lena einen hellen Funken. Nicht so bunt und strahlend wie bei ihrem ersten Wortgeplänkel unter den Kirschbäumen, aber immerhin ein Anfang.
»Da gab es einmal eine ähnliche Situation«, fuhr er fort. »Ich war siebzehn, ein bisschen großspurig und wollte unbedingt gegen Vater antreten. Natürlich landete ich im Staub und brach mir das Schlüsselbein. Ihr hättet meine Mutter schimpfen hören sollen. Sie schrie meinen Vater an, wenn er so weitermache, werde er mich noch umbringen. Er schaute sie an wie ein geprügelter Hund, und dann war ich es, der ihn gegen sie verteidigte.« Bei der Erinnerung an die alte Begebenheit huschte tatsächlich ein zaghaftes Lächeln über sein Gesicht.
»Was sagte Eure Mutter zu Euch, als ihre Prophezeiung sich ganz anders erfüllte?«
Philip schluckte. »Sie hat mir nie einen Vorwurf gemacht. Keiner hat das getan. Vielleicht wäre es einfacher gewesen, wenn sie mich angeschrien und beschimpft hätte. Aber sie war genau wie Vater. Sie wollte mich trösten, obwohl ich gerade unsere Familie zerstört hatte.« In seinen Augen schimmerte es wieder feucht.
»Und dann sagst du mir, du seist verachtenswert, während alle um dich herum dich lieben, weil sie wissen, wie du bist, und dass es niemanden gibt, der ihre Liebe mehr verdient!«, brach es aus ihr heraus.
Der Schmerz in seinen Augen wich einer tiefen Verwirrung.
»Wieso ich?«
»Weil du voller Güte bist, voller Treue, und weil nur gute Menschen so sehr leiden können. Menschen, die wirklich lieben. Menschen, die es wert sind, geliebt zu werden. Solche wie du!«
Ehe sie noch begriff, was sie tat, fanden ihre Lippen die seinen, die sich viel weicher und zarter anfühlten, als sie erwartet hatte. Er zuckte kurz zurück, überrascht von ihrem Ungestüm, doch dann war er nur allzu gern bereit, der Verlockung nachzugeben.
Nie zuvor hatte sie jemanden mit so viel Leidenschaft geküsst, sich so sehr fallen lassen. Es war ihr gleich, ob man sie vom Gutshaus aus beobachtete, was Tante Margarita sagen würde oder ob Philip sie für leichtfertig hielt. Aber nein, das würde er nicht, dessen war sie sich sicher. Philip nahm sie so fest in die Arme, wie sie es sich erträumt hatte, nicht länger verletzlich und schwach, sondern stark und beschützend, fordernd und zärtlich zugleich. Und als sie sich wieder voneinander lösten, da strahlte seine Seelenflamme so hell, als wäre sie niemals dem Verlöschen nahe gewesen.
Vom Haus her hörten sie Marie rufen, das Essen sei fertig.
»Ob sie uns gesehen hat?«, flüsterte Lena, doch Philip schüttelte den Kopf. »Niemand hat uns gesehen.«
»Und wenn doch?«
»Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als dich zu heiraten, um deinen Ruf zu wahren.« Das Feuer in seinen Augen sprühte helle Funken. War es ein Scherz? Und wenn nicht?
Marie rief zum zweiten Mal. Wie von selbst rieben Lenas Hände über den Stoff ihres Kleides, bevor sie der Aufforderung des Mädchens folgte.
Eine derart fröhliche Tischgesellschaft hatte Lena lange nicht mehr erlebt. Vor dem Haus war eine lange Tafel aufgebaut worden, an der jedes Mitglied des Haushaltes, einschließlich des Gesindes, Platz fand. Eine alte Tradition, die ihr Vater vor langer Zeit begründet hatte. Wer gemeinsam lebte, sollte auch gemeinsam essen, unabhängig vom Stand. Dass Lothar diesen Brauch fortführte, gab Lena das Gefühl, der Geist ihres Vaters sei auf Eversbrück noch zu Hause.
Es wurde viel geredet und gelacht, Schwester Margarita war sich nicht zu fein, alte Anekdoten aus ihrer Jugend zu erzählen, wenngleich sie taktvoll genug war, nicht über ihre Freier zu sprechen, die sie stets so gekonnt vergrault hatte.
Nur Philip war ungewöhnlich
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