Die Sündenheilerin (German Edition)
die Augen fuhr. Da spürte auch sie das Brennen aufsteigender Tränen.
»Er hat Euch sehr geliebt, denn seine letzte Sorge galt Euch.«
»Er starb nicht sofort«, hörte sie Philips Stimme. Er kämpfte mit den Tränen, aber er sprach weiter. »Der Todeskampf dauerte vier Tage. Der Splitter hatte nicht nur sein Auge durchbohrt, sondern war ihm tief in den Schädel gedrungen. Ich habe an seinem Lager gewacht, habe Gott um Hilfe angefleht, habe die unsinnigsten Gelübde abgelegt, wenn er nur wieder gesund würde. Aber nichts half. Kein Arzt, kein Gebet. Nichts. Zwischendurch phantasierte er, erkannte niemanden mehr. Dann gab es wieder einen Moment, in dem er ganz klar war. Er hatte gesehen, dass ich meine Lanze, noch bevor man ihn ins Haus trug, zerbrochen hatte, dass ich nichts mehr von all dem wissen wollte, was wir beide immer so geliebt hatten. In der letzten klaren Stunde seines Lebens ließ er mich schwören, niemals seine Wurzeln zu vergessen und wenigstens einmal in seine alte Heimat zu reisen, damit ich mir immer bewusst bleibe, dass ich zwei Vermächtnisse in mir trage. Noch während ich es ihm versprach, verlosch sein Lebensfunke für alle Zeiten, und ich blieb zurück – mit einer Schuld, die ich niemals abtragen kann. Ich hätte niemals gegen ihn reiten dürfen. Er war schon ein alter Mann. Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte es verdient zu sterben, nicht er.«
Lena griff nach seiner Hand.
»Bitte, seht mich an!«, flüsterte sie.
Er wandte sich tatsächlich zu ihr um. Langsam, zögernd, mit geröteten Augen, in denen tiefster Schmerz lag. Er hatte sich ihr vollkommen ausgeliefert. Sie konnte nicht anders, Schicklichkeit hin oder her, als ihn in die Arme zu nehmen.
»Es wäre Eurem Vater nicht recht gewesen, wenn Ihr gestorben wärt«, flüsterte sie, während sie ihn an sich drückte und spürte, wie er ihre Umarmung erwiderte, nicht leidenschaftlich wie in ihrem Traum, sondern vorsichtig und zurückhaltend. »Habt Ihr nie darüber nachgedacht, dass es auch sein Hochmut war, nicht nur der Eure?«
Er antwortete nicht, und so sprach sie weiter.
»Euer Vater war eine Legende. Und er bewies am selben Tag, dass er es mit gleichaltrigen wie mit jüngeren Männern aufnehmen konnte. Wie hättet Ihr das Unglück vorausahnen sollen?«
Philip atmete schwer, aber er sagte noch immer kein Wort.
»Habt Ihr Euch jemals gefragt, was wohl geschehen wäre, wenn Gott Euch Euren Wunsch erfüllt hätte und Ihr am Boden gelegen hättet, durchbohrt von Eures Vaters Lanze?«
»Er hätte gelitten wie ich«, flüsterte Philip.
»Ja, das hätte er. Und vielleicht mehr als Ihr jetzt, denn wenn Ihr gestorben wärt, dann wäre auch seine Zukunft gestorben, und zurückgeblieben wäre ein abgestorbener Baum, dessen lebendigster Trieb zu früh abgeschnitten worden wäre. Hätte Euer Vater die Wahl gehabt, wer von Euch beiden hätte sterben sollen, auf wen wäre sie wohl gefallen?«
»Bitte, hört auf damit!«
»Nein, das tue ich nicht. Ihr habt die Schuld lange genug nur bei Euch gesucht. Was geschah, war ein tragischer Unfall. Euch trifft keine größere Schuld als Euren Vater. Er war der Erfahrenere. Er wusste, worauf er sich einließ. Er wusste es besser als Ihr, denn Ihr saht in ihm keinen alten Mann. Ihr tratet gegen Euren bewunderten, unbesiegbaren Vater an, den strahlenden Helden Eurer Kindheit. Denn wäre es anders gewesen, hättet Ihr Euch nicht auf den Kampf eingelassen, zu dem Euer Vater Euch aufforderte.«
»Wollt Ihr damit sagen, er hätte selbst Schuld gehabt?«
»Nein. Ich will damit sagen, dass es keinen Schuldigen gibt. Es war ein schrecklicher Unfall, den niemand wollte. Euer Vater starb, Ihr bliebt am Leben. Das ist der einzige Trost, den Euer Vater mit ins Jenseits nehmen konnte. Er durfte sterben und musste nicht mit der Schuld leben. Und er wollte auch nicht, dass Ihr mit der Schuld lebt. Wie sonst hätte er schon auf dem Turnierplatz die Kraft gefunden, Euch zu trösten? Euer Wohl war ihm wichtiger als sein eigenes. Er wäre immer für Euch gestorben, wenn er die Wahl gehabt hätte. Weil das Sterben für einen anderen einfacher ist, als ohne ihn weiterzuleben. Und weil Ihr Euer Leben noch vor Euch habt. Weil Ihr seine Zukunft tragt. Philip, auch mein Vater starb für mich, um mir einen kleinen Vorsprung zu verschaffen. Er stellte sich bei dem Überfall auf unseren Hochzeitszug dem Räuberhauptmann entgegen, obwohl er längst nicht mehr die Kraft der Jugend besaß. Er wusste, dass er sterben
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