Die Sündenheilerin (German Edition)
Trost zu spenden, doch jedes Mal fegte die Gräfin ihre Anteilnahme hinfort. Warf ihr versteckt den Fehdehandschuh hin und zog sich zugleich in dumpfes Schweigen zurück. Niemals hatte Lena so etwas erlebt. Wollte die Frau keine Hilfe annehmen? Dann war ihr ein ungeheurer Verdacht gekommen. Konnte es sein, dass es gar kein Kind mehr gab? War der Säugling, von dem sie keine Spur fand, längst gestorben? War dies der Grund für das seltsame Verhalten?
Zum ersten Mal hatte sie zu fragen gewagt, ob sie das Kind wohl sehen dürfe. Elise hatte nur genickt.
Es war ein hübsches Kind, ein Knabe mit so strahlend blauen Augen wie der Vater, zarten blonden Haaren, die wie Seide schimmerten. Er lächelte Lena an, zeigte keine Furcht. Sie hatte ihn sofort ins Herz geschlossen und begriff weniger denn je, was in der Gräfin vorging. Nachdem sie die Kinderstube verlassen hatte, setzte sich der Schmerz in ihrer Stirn fest, erst leise, doch sie kannte die Anzeichen. Sie hatte das Pochen fast erwartet, nachdem der dumpfe Schmerz sie am Tag zuvor nicht mehr aus seinen Klauen gelassen hatte.
Woher sollte sie die Kraft nehmen, sich der Gräfin abermals zu stellen? Anstatt Elise Gesundheit zu bringen, hatte sie das Gefühl, selbst vergiftet zu werden.
Sie tauchte die Hände in die Schüssel und fuhr sich erneut mit kühlem Wasser über die Stirn.
Dann war da noch Ludovika, die ihr ständig in den Ohren lag wegen des Heiden, den sie unbedingt zum Heil führen wollte. Wie gut, dass Graf Dietmar ihre leidigen Versuche tags zuvor unterbunden hatte. In ihrem Elternhaus hatte Lena schon früh Bekanntschaft mit Andersgläubigen gemacht. Zwar waren es Juden gewesen, keine Muselmanen, aber ihr Vater hatte die gelehrten Männer ungeachtet ihres Glaubens stets mit Hochachtung behandelt. Sie erinnerte sich an Philips heftige Verteidigung seines Freundes. So ähnlich hätte auch ihr Vater sprechen können. Sie hatte es Ludovika nie gesagt, denn obgleich sie die junge Nonne schätzte, wusste sie um deren Unerbittlichkeit in Glaubensdingen. Ludovika war eine der wenigen, die gegen den Wunsch der Eltern den Weg ins Kloster gefunden hatte. Manchmal fragte Lena sich, ob dies Ludovikas Art war, ihre Eltern für ihre Sünden zu bestrafen. Ludovika war eine uneheliche Tochter des Grafen von Regenstein, doch auch als illegitime Grafentochter besaß sie einen entsprechenden Wert auf dem Heiratsmarkt, den ihr Vater nutzen wollte. Mit ihrer Frömmigkeit und dem Wunsch, ins Kloster einzutreten, hatte sie alle seine Pläne durchkreuzt. Ja, Ludovika wusste ihren Glauben sehr wohl als Waffe einzusetzen. Wäre sie als Mann geboren worden, wäre sie gewiss ein Kreuzfahrer geworden.
Lena atmete noch ein paarmal tief durch. Nur langsam wurde das Pochen hinter ihrer Stirn so erträglich, dass sie sich ankleiden konnte. Es half nichts, sie musste sich auch heute der Gräfin stellen. Stellen … dieses Wort hätte wohl eher einem Ritter angestanden. Seit wann musste man kämpfen, um jemandem zu helfen? Elises Verhalten stellte alles auf den Kopf.
Ob sie mich wohl als Feindin sieht?, fragte sich Lena. Als Eindringling in ihre Welt? Aber es war doch ihr Gatte, der mich nach Birkenfeld holte, um ihr Hilfe zu bringen. Langsam flocht sie ihr Haar zu einem dicken Zopf. Der feste Druck des Gebändes linderte das schmerzhafte Pulsieren ein wenig, dennoch fühlte sie sich wie ein angeschlagener Kämpfer, als sie erneut in die Schranken des Turniers mit der Gräfin trat.
Elise empfing sie mit ausdrucksloser Miene, das Gesicht dem Fenster zugewandt. Immerhin erwiderte sie Lenas Gruß mit einer leichten Kopfbewegung. Nicht huldvoll oder erhaben, sondern müde und erschöpft. Dennoch wirkten die Züge der Gräfin auf eine eigentümliche Weise wach und erfrischt und erinnerten Lena wieder an das Pochen in ihrem eigenen Schädel.
»Konntet Ihr in dieser Nacht besser schlafen?« Behutsam ließ Lena sich auf dem Stuhl der Gräfin gegenüber nieder.
»Was ist das Leben eigentlich wert?«, fragte Elise, statt auf Lenas Frage zu antworten. Im ersten Moment war Lena versucht, sofort vom Geschenk Gottes zu sprechen, doch inzwischen kannte sie Elise gut genug, um zu wissen, dass derartige Fragen der Gräfin nur dazu dienten, das Gespräch zu beginnen und zu lenken. Sie wollte gar keine Antworten.
»Wem ist das Leben eines Menschen etwas wert?«, fuhr Elise fort. »Was tätet Ihr, wenn ich jetzt aufstünde und ans Fenster träte, um mich vom Turm zu stürzen?«
Da war es wieder,
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