Die Sündenheilerin (German Edition)
keine genaue Vorstellung, was sie hier erwartete. Umso überraschter war sie, als sie den Garten betrat. Er war nur klein, aber so geschickt angelegt, dass er einen Eindruck vom Garten Eden zu vermitteln schien. An der Mauer wuchsen Heckenrosen, deren Knospen sich gerade öffneten. Der Garten selbst schien ohne jede Ordnung Blumen hervorzubringen, Rosen und Lilien, zahllose Gänseblümchen und Löwenzahn.
Elise ließ sich auf einer steinernen Bank nieder, die im Schatten der Heckenrosen stand und von der aus sie sowohl den Garten als auch den schmalen Durchlass in der Mauer im Blick hatte.
»Setzt Euch zu mir, Frau Helena!«
Der Stein war kühl, aber nicht unangenehm. Der süße Duft der Heckenrosen weckte vertraute Erinnerungen. Der letzte Frühling auf Gut Eversbrück. Schon Tage vor der Hochzeitsfeier hatte die Dienerschaft mit dem Schlachtfest begonnen, gebraten, gebacken, gekocht. Oft genug war Lena vor dem Trubel davongelaufen, hatte sich in der Nähe der alten Kirschbäume im Gras ausgestreckt und von Martin geträumt. So lange, bis ihre Mutter nach ihr suchte und sie aufgebracht zur Ordnung rief. Es zieme sich nicht für eine junge Braut, barfüßig über die Wiesen zu laufen und wie ein Kind im Gras zu liegen. Sie müsse sich ihrer Würde bewusst sein. Noch während sie daran dachte, sah sie, wie Elise ihre Schuhe abstreifte und die nackten Füße im Gras vor der Bank ruhen ließ.
»Habt Ihr keine Furcht, dass jemand kommt?«
»Wer sollte schon kommen?« Elise lachte. »Und selbst dann wäre der Anblick bloßer Füße doch nichts Außergewöhnliches. Denkt nur an die Mägde.«
»Ihr überrascht mich.«
»Vielleicht werde ich Euch noch mehr überraschen.«
Ein rotbrauner Schmetterling flatterte dicht an Lenas Kopf vorbei, bevor er sich auf einer Rose niederließ.
»Dann fangt an. Ich habe eine Schwäche für Überraschungen.«
»Ihr wolltet wissen, ob sich meine Träume erfüllt haben. Anfangs schon. Wir hatten das prachtvollste Hochzeitsfest, das man sich denken kann, und alle meinten, wir seien füreinander geschaffen. Dietmars Vater leerte seinen Becher an jenem Abend häufiger als gewöhnlich, um auf unsere reiche Nachkommenschaft anzustoßen. Damals verstand ich nicht, warum einige der Gäste grinsten. Ich dachte, sie hätten schon etwas zu viel getrunken. Doch dann sah ich Dietmars Blicke. Ein gezogenes Schwert hätte nicht schärfer sein können. Es gab ein Geheimnis, von dem ich noch nichts ahnte. Ich fragte ihn, wer diese Männer seien, und er erklärte mir, es seien der Graf von Regenstein und sein jüngster Bruder Ulf. Die Regensteiner hätten von jeher ein Auge auf Burg Birkenfeld geworfen. Ihr müsst wissen, Birkenfeld ist ein Erblehen, und wenn ein Graf von Birkenfeld ohne Nachkommen verstirbt, wird es neu vergeben. Die nächsten Anwärter sind die Regensteiner, und der Graf von Regenstein hätte die Burg gern im Besitz seines jüngsten Bruders gesehen.«
»Warum sollte es ausgerechnet an den jüngsten fallen?«
»Die beiden älteren Brüder sind tot. Sie kamen auf dem gleichen Kreuzzug ums Leben wie der Bruder meines Gatten.«
Dietmars Worte im Prunksaal. Der Verdacht, den er gegen Philip gehegt hatte.
»Hätten die Regensteiner denn eine Möglichkeit, sich des Lehens zu bemächtigen?«
Elise nickte. »Wenn Dietmar keine Nachkommen hätte, würde es ihnen über kurz oder lang zufallen.«
»Aber doch erst nach seinem Tod, oder?«
»Ihr wisst selbst, wie schnell das Leben vorüber sein kann. Vor vier Jahren starb Dietmars Vater. Einen Monat später entging Dietmar nur knapp einem Mordanschlag.«
Lenas Mund wurde trocken. Die Gelassenheit, mit der die Gräfin sprach, erschreckte sie mehr als der Inhalt ihrer Worte. Überhaupt schien sie jede Scheu verloren zu haben. Warum plauderte sie plötzlich Familiengeheimnisse so freimütig aus, wie andere Frauen Stickmuster austauschten? Eigentlich sollte ich mich freuen, aber irgendetwas ist seltsam, dachte Lena. Sosehr sie auch darüber nachgrübelte, sie fand keine Erklärung für die neue Offenheit der Gräfin.
»Wer war es?«
Elise zuckte mit den Schultern. War es ihr gleichgültig? »Er war allein auf der Jagd, so wie er es oft zu tun pflegt. Von irgendwoher traf ihn ein Pfeil in die Schulter. Es könnte ein Unfall gewesen sein, ein unvorsichtiger Wilderer, der sich danach aus dem Staub machte. Aber es könnte ebenso gut ein gezielter Anschlag gewesen sein. Dietmar glaubt bis heute, dass es die Regensteiner waren.«
Elise zog die
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