Die Sündenheilerin (German Edition)
kleiner Vogel flatterte vom Sims des oberen Fensters auf.
»Den Frühling«, antwortete Lena und schaute dem Vogel nach. War es ein Rotkehlchen?
»Ich hätte eine tiefsinnigere Antwort von Euch erwartet.« Elise seufzte. »Seht Ihr nicht den Tod, der überall lauert?«
Da war sie wieder, die alte Schwermut. Ein Schauer rieselte Lena über den Rücken.
»Wo seht Ihr den Tod, Frau Elise?«
»In allem, was da blüht und grünt. Es lebt nur, um alsbald zu sterben.«
Erst jetzt wandte sie sich zu Lena um. Ihre Augen waren tief und unergründlich. Das gestern noch so heftig lodernde Feuer war verloschen.
»Ihr seid voller Hingabe, Frau Helena«, fuhr sie fort. »Ihr habt aus Eurem Leid eine Tugend gemacht, Ihr helft anderen. Aber es gibt Menschen, denen nicht mehr zu helfen ist.«
»Menschen wie Euch?«, fragte Lena.
Elise nickte. »Die Freude ist längst in mir gestorben.«
»Das sagtet Ihr schon einmal, doch gestern kamt Ihr mir sehr lebendig vor.«
»Das ist der Fluch, mit dem Gott meine Familie seit Generationen straft. Der Fluch, der mich nach Birkenfeld führte.«
»Mögt Ihr mir von dem Fluch erzählen?«
»Wozu sollte das gut sein? Ich glaube nicht, dass Ihr mir helfen könnt.«
»Und ich glaube nicht, dass Ihr wirklich Hilfe wollt«, entfuhr es Lena. »Ihr tut alles, um in Eurem Leid zu verharren.«
»Meint Ihr?« Es lag kein Widerspruch in Elises Stimme, eher ein Eingeständnis.
»Warum wollt Ihr leiden, Frau Elise? Welche Schuld wollt Ihr abtragen? Die Sünde, in der Ihr Rudolf empfingt? Martins Tod?«
»Ich bin nicht schuld an Martins Tod!« Elises Augen blitzten. »Führte ich das Schwert, das ihn tötete? Rief ich Gottes Strafgericht auf ihn herab?«
Lena unterdrückte den Wunsch, die Gräfin zu beschwichtigen. Heftige Gefühle waren besser als diese todessehnsüchtige Schwermut.
»Was ist es dann?«, fragte sie.
»Was wisst Ihr schon von meinem Schmerz? Euer Leid ist rein und edel, Ihr seid Euch des Mitleids aller sicher. Ihr seid ein Opfer, niemand würde Euch zürnen. Ihr dürft trauern. Was bleibt mir?«
»Ihr habt einen Sohn von Martin.«
»Und Ihr glaubt, das mindere den Schmerz?« Elise lachte bitter auf. »Im Gegenteil, das macht alles nur noch schlimmer. Aber das werdet Ihr wohl nie verstehen.«
»Ihr wollt gar nicht, dass ich es verstehe. Ihr wollt weiter leiden, um andere zu strafen.«
»Ich kann Eure Selbstgerechtigkeit nicht länger ertragen. Ihr seid nicht besser als all die anderen Heilkundigen, die Gott und der Welt die Schuld geben, wenn ihre Fähigkeiten versagen.« Die Flamme in Elises Augen wurde kräftiger. Das war es also, was die Gräfin brauchte.
Leidenschaftliche Gefühle, ganz gleich, ob Liebe oder Zorn. Mit Martins Tod war ihre Leidenschaft gestorben, vielleicht auch die Liebe, und ihrem Gatten war es nicht gelungen, die Lücke zu füllen.
»Ist es wirklich meine Selbstgerechtigkeit? Oder fühlt Ihr Euch nicht vielmehr ertappt? Warum solltet Ihr sonst so zornig werden?«
»Ach, was wisst Ihr schon!«, schrie Elise. »Wenn ich Euch sage, dass es für mich keine Hoffnung gibt, dann gibt es keine. Dietmar wusste es. Er hätte Euch auch nie geholt, wenn Herr Ewald nicht darauf bestanden hätte.«
»Es war nicht der Wunsch Eures Mannes?«
Lena erinnerte sich an den Moment ihrer ersten Begegnung, Elise an der Hand des Kaplans, hilflos, aber doch voller Zuneigung zu ihrem Gatten.
»Nein. Herr Ewald hatte von Euch gehört und schlug es ihm vor. Dietmar zögerte lange, bis er zustimmte, Euch rufen zu lassen.«
»Warum?«
»Fragt ihn doch«, kam es gleichmütig zurück.
»Ich möchte es aus Eurem Munde hören.«
»Weil er weiß, dass mein Leiden Gottes gerechte Strafe für unsere Sünden ist.«
»Gott ist barmherzig. Er vergibt den reuigen Sündern.«
»Wer sagt denn, dass ich irgendetwas bereue?« Elise funkelte Lena herausfordernd an. Noch vor zwei Tagen wäre Lena vor diesem unerwarteten Gefühlsumschwung zurückgewichen, doch nach dem gestrigen Tag konnte er sie nicht mehr erschüttern. Plötzlich kannte sie die Antwort. Die schwankenden Stimmungen waren ein Teil des Leidens. Elises Seelenflamme kämpfte um das rechte Maß, sie fand es nicht mehr.
Lena dachte an Philip. Auch bei ihm hatte sie die Schwankungen bemerkt, doch sie waren ganz anderer Art. Ein Mann, der einen tiefen Schmerz in sich trug, den er verzweifelt zu unterdrücken versuchte.
War das Elises Geheimnis? Konnte sie ihren Schmerz nicht mehr beherrschen? Ergriff er Besitz von ihrem
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