Die Sünder - Tales of Sin and Madness (German Edition)
Enthüllungen, die Sie dazu bringen werden, noch einmal darüber nachzudenken, ob es sich bei den Morden wirklich um das Werk eines Nachahmungstäters handelt oder ob der Täter nicht doch im Jenseits zu finden ist.
THE ARGUS, DONNERSTAG, 15. SEPTEMBER 1892
Mad Fred – Teil 3
LITTLE LON – SCHAUPLATZ DER JÜNGSTEN PROSTITUIERTENMORDE
WAR DEEMING JACK THE RIPPER? VERBLÜFFENDE ERKENNTNISSE
DER VERRÜCKTE VON MELBOURNE: NACHAHMUNGSTÄTER ODER GEIST?
Die Gegend, die Einheimische unter dem Namen Little Lon kennen, ist für ihre Laster und ihre Verbrechen berüchtigt. Es ist eine dunkle, übel riechende Enklave mit einer Ansammlung schmutziger, dicht an dicht gebauter Holzhäuschen und Backsteingebäuden. Billige Absteigen und Opiumhöhlen drängen sich dicht an dicht mit den schäbigsten Kneipen in ganz Melbourne. Dieses kleine Elendsviertel am Stadtrand liegt meilenweit von den Theatern und Boutiquen der Collins Street entfernt. Obwohl man es nicht ganz mit den heruntergekommenen Armenvierteln des Londoner East End vergleichen kann, in denen Tausende trauriger, von Armut gebeutelter Männer, Frauen und Kinder in entsetzlichem Elend hausen, ist doch auch Little Lon kein Ort, den ein anständiger Mensch nach Einbruch der Dunkelheit freiwillig besuchen würde. In ärmlichen Baracken inmitten des erdrückenden Gestanks aus verrottendem Abfall und Industrieabgasen leben ganz gewiss auch anständige Familien. Aber sie sind gegenüber den betrunkenen, von Drogen vernebelten Einwohnern, die in der Dunkelheit aus ihren Löchern kriechen und die Nacht in einem Dunst der Sittenlosigkeit vergeuden, eindeutig in der Minderheit.
Hier sind auch die zahlreichen Bordelle einer gewissen Caroline Hodgson zu finden, besser bekannt unter ihrem Künstlernamen Madame Brussels. Die meisten dieser Bordelle sind in zweistöckigen Holzreihenhäusern und großen Ziegelsteingebäuden untergebracht und scheinen die gesamte Lonsdale Street abzudecken. Darunter mischen sich einzelne Kaschemmen, etwa »The Duke on Little Lonsdale«, wo sich die raubeinigsten Kerle bis in die frühen Morgenstunden mit Bier und Gin betrinken. Abseits der spärlichen Beleuchtung der Hauptstraßen warten dunkle Gassen, in denen das Laster und der unverkennbare Gestank von Opium die faule Atmosphäre zusätzlich verpesten.
Es war in einer dieser finsteren Gassen, wo man in den frühen Morgenstunden des 31. August die Leiche der ersten ermordeten Prostituierten entdeckte. Die 42-jährige Emma Doyle stammte ursprünglich aus Irland und wurde mit durchschnittener Kehle und aufgeschlitztem Bauch gefunden. Ihre Eingeweide quollen aus der Wunde hervor. Doyle, eine aktenkundige Amüsierdame, wurde zuletzt gesehen, als sie gegen zwei Uhr morgens alleine auf der Little Lonsdale Street in Richtung Osten schlenderte. Kurz nach halb vier stieß ein Mann, der sich auf dem Weg von der Arbeit nach Hause befand, auf dem Pflaster vor seinem winzigen Backsteinhäuschen in Castletown Place, einer dunklen, schmalen Seitengasse der Little Lonsdale Street, auf die Leiche.
Die Uhrzeit und das Datum des Mordes sowie die zugefügten Verletzungen stimmen vollständig mit denen des dritten Mordopfers von Jack the Ripper, Mary Ann Nichols, überein, deren verstümmelte Leiche in der Buck’s Row in Whitechapel auf dem Trottoir lag.
Während ich vor der Reihe aus sechs roten Backsteinhäusern in Castletown Place stehe, erlebe ich ein Déjà-vu der besonderen Art. Die Gegend gleicht auf unheimliche Art und Weise dem Tatort in der Buck’s Row, an dem sich vor vier Jahren einer der Whitechapel-Morde ereignete. Es kommt mir beinahe so vor, als wäre ich durch die Zeit an einen anderen Ort zurückgereist. Ich leuchte mit meiner Blendlaterne auf den Boden vor dem Backsteinhaus und kann noch immer Blutspuren auf dem Kopfsteinpflaster und im Rinnstein erkennen. Ich glaube fast, den verrückten Mörder vor mir zu sehen, der sich über die arme Frau beugt, ihr zunächst die Kehle aufschlitzt und sich dann an ihrem Bauch zu schaffen macht. Genau wie bei den abgeschlachteten Opfern von Jack the Ripper hat auch hier niemand etwas gesehen oder gehört – und das, obwohl ein halbes Dutzend Familien in den Reihenhäusern wohnt, neben denen die Frau ermordet wurde.
Es ist kurz nach zehn Uhr abends. Der Nebel liegt wie ein dicker Schleier über der Stadt und der starke, beißende Geruch von vermoderndem Abfall hängt schwer in der Luft. Als ich mit einigen der Einwohner spreche, erfahre ich, dass man in
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