Die Sünder - Tales of Sin and Madness (German Edition)
immer verschmierte, rotbraune Flecken zu erkennen. »Zuerst hat er gedacht, es sei nur ein Haufen Müll, den jemand in unserem Hinterhof abgeladen hat, oder irgendein Betrunkener aus der Gegend. Mein Sohn ist dann hingegangen, um sich die Sache im Schein seiner Kerze aus der Nähe zu betrachten. Da hat er gesehen, dass es sich um die Leiche einer Frau handelt. Sie war komplett aufgeschlitzt.«
Die 46 Jahre alte Tess Haynes, eine weitere stadtbekannte Prostituierte, wurde mit beinahe vollständig abgetrenntem Kopf und aufgeschlitztem Bauch aufgefunden. Der Täter hatte ihr die Eingeweide aus dem Körper entfernt und über ihrer rechten Schulter ausgebreitet. Von einigen Organen fehlte jedoch jede Spur.
»Es war das Entsetzlichste, was ich je gesehen habe, und ich werde diesen Anblick bis an mein Lebensende nicht vergessen. Wann immer ich meine Augen schließe, sehe ich diese arme Frau mit offenem Bauch und heraushängenden Eingeweiden vor mir.«
Dann hat weder sie noch ein anderes Mitglied ihrer Familie etwas gehört? Einen Kampf? Einen Hilfeschrei?
»Nein«, beteuert Mrs. Snell schweren Herzens. »Wir haben alle einen leichten Schlaf und trotzdem hat keiner von uns etwas gehört. Dabei muss es nicht lange, nachdem Johnny zur Toilette ging, passiert sein – mein Mann war gegen fünf Uhr noch im Hinterhof, aber er hat nichts Ungewöhnliches bemerkt. Ich bin mir sicher, dass er die Leiche an der Wand hätte liegen sehen, wenn sie bereits dort gewesen wäre.«
Laut Mrs. Snell wird der Hinterhof oft von Prostituierten für ihre geschäftlichen Angelegenheiten genutzt. Viele dieser abgelegenen Ecken in der Gegend sind bekannte Treffs für sexuelle Vergnügungen – Orte, an denen die Prostituierten und ihre Freier zumindest ein wenig Privatsphäre genießen und sich nicht im direkten Blickfeld der Polizei befinden.
»Wir mussten schon oft kopulierende Pärchen aus unserem Hof verscheuchen«, bestätigt Mrs. Snell. »Es ist nicht ungewöhnlich, mitten in der Nacht hier herauszukommen und einen Mann und eine Frau bei ihrem wollüstigen Treiben vorzufinden. Manchmal wird der Hinterhof auch von Betrunkenen genutzt, die entweder zu viel Angst haben oder einfach zu voll sind, um nachts noch nach Hause zu gehen. Sie torkeln dann einfach hier rein und rollen sich in einer Ecke zusammen, um ihren Rausch auszuschlafen.«
Werden sie und ihre Familie von nun an die Tür zum Hinterhof abschließen?
»Guter Gott, nein«, schnaubt Mrs. Snell. »Es ist wirklich schrecklich, was da passiert ist, aber es wäre nicht sehr sinnvoll, die Tür abzuschließen. Wer kann sich denn auch so ein Schloss leisten? Allerdings habe ich es allmählich satt, dass ständig Leute hier vorbeikommen und in meinen Hinterhof glotzen. Es ist einfach makaber, wie scharf die darauf sind, einen Blick auf den Tatort zu werfen. Und es sind nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene, Männer wie Frauen. Und die sollten es wirklich besser wissen.«
In der kurzen Zeit, die ich im Hinterhof der Snells verbracht habe, sind mindestens ein Dutzend Köpfe über dem Zaun aufgetaucht oder die Schaulustigen haben sogar direkt den Hof betreten, um einen Blick auf den Tatort des zweiten Mordes zu erhaschen.
Da sie die Leiche ja gesehen hat: Glaubt Mrs. Snell an einen aus dem Jenseits zurückgekehrten Mörder oder doch eher an einen Nachahmungstäter?
»Ich glaube nicht an Geister und was ich an jenem Morgen gesehen habe, war eindeutig real. Ich bin mir sicher, dass es irgendein Verrückter war, der entweder denselben Ruhm wie Jack the Ripper sucht oder die ganze Sache als kranken Scherz betrachtet. Mit all dem Gerede in den Zeitungen darüber, dass Deeming Jack the Ripper sein soll, und mit seinen schrecklichen Verbrechen und seiner Hinrichtung vor einiger Zeit – da muss man sich nicht wundern, dass der eine oder andere verrückt spielt. Und dabei könnte es jeder sein, sogar einer aus der Nachbarschaft, den ich schon mein Leben lang kenne – es könnten auch genauso gut Sie sein.«
Mrs. Snell lacht mich an. Ich lache zurück und sage ihr, dass das ein vollkommen absurder Gedanke ist. Ich stamme ja noch nicht einmal aus dieser Gegend.
»Ich weiß. Aber für jemanden, der sich in den Straßen hier nicht auskennt, haben Sie mein Haus ziemlich schnell gefunden. Normalerweise brauchen die Journalisten den ganzen Tag und müssen sich bei den Nachbarn durchfragen, um unser kleines Zuhause zu finden.«
Ich könne Blut aus meilenweiter Entfernung riechen, versichere ich
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